Voodoo
irgendetwas biss sich mit der Eleganz des Zimmers.
»Mögen Sie Jazz?«, fragte Carver.
»Ja. Und Sie?«
»Teilweise. Wir haben Mingus hier bei einem Konzert in Port-au-Prince gesehen, im Hotel Olffson. Ist lange her.«
Gustav wurde still und betrachtete das Portrait an der Wand.
»Kommen Sie«, sagte er und hievte sich mit Hilfe seines Gehstocks aus dem Sessel hoch. Max stand auf, um ihm zu helfen, aber Gustav winkte ab. Er war ungefähr genauso groß wie Max, aber er stand leicht gebeugt, und seine Schultern und der Nacken waren sehr viel schmaler.
Carver führte ihn zum Kaminsims.
»Unsere Galerie der Berühmten und Berüchtigten, je nach Sichtweise«, verkündete Carver mit lautem Gelächter, als er mit großer Geste auf den Sims zeigte.
Er war aus Granit, um die Mitte lief ein schmaler goldener Lorbeerkranz, und er war sehr viel tiefer, als Max gedacht hatte, mehr ein Wandvorsprung denn ein Sims. Max ließ den Blick über sämtliche Fotos wandern. Es waren weit über hundert, sie standen fünf Reihen tief, alle in einem anderen Winkel, sodass die Hauptfiguren auf Anhieb zu erkennen waren.
Die Bilderrahmen waren schwarz, und um den Innenrand verlief der gleiche goldene Lorbeerkranz wie um den Kamin. Zuerst sah Max nur unbekannte Gesichter, die ihn in Schwarzweiß, Sepia und Farbe anstarrten: Carvers Vorfahren, alte und noch ältere Männer, die Frauen zumeist jung, alle weiß. Doch dann bemerkte er zwischen den aristokratischen Profilen und den Kameraposen von vorvorgestern Aufnahmen vom jungen Gustav: beim Fischen, beim Krocket in Kniebundhosen, Hochzeitsfotos mit seiner Frau und immer wieder Gustav beim Handschlag mit Berühmtheiten und Ikonen der Zeitgeschichte. Zu denen, die Max erkannte, gehörten JFK, Fidel Castro (die beiden Fotos standen nebeneinander), John Wayne, Marilyn Monroe, Norman Mailer, William Holden, Ann-Margret, Clark Gable, Mick Jagger, Jerry Hall, Truman Capote, John Gielgud, Graham Greene, Richard Burton, Elizabeth Taylor. Auf keinem der Fotos wirkte Carver in der Aura der Stars klein oder unbedeutend. Im Gegenteil, Max empfand seine Präsenz als sehr viel dominanter, als würde eigentlich Carver für sie posieren.
Es waren auch zwei Fotos von Sinatra dabei, eines beim Handschlag mit Carver, auf dem anderen drückte er der vor Ehrfurcht erstarrten Judith Carver einen Kuss auf die Wange.
»Wie fanden Sie ihn? Sinatra?«, fragte Max.
»Eine Kaulquappe, die sich für einen Haifisch hält – und vulgär noch dazu. Keine Klasse«, sagte Carver. »Meine Frau hat ihn vergöttert, deshalb habe ich ihm praktisch alles verziehen. Er schreibt mir immer noch. Oder vielmehr sein Sekretär. Er hat mir seine letzte CD geschickt.«
» LA Is My Lady? «
»Nein. Duets .«
»Es gibt ein neues Album?«, fragte Max sehr viel aufgeregter, als ihm lieb war. Er hatte nicht daran gedacht, vor seiner Abreise in einen Plattenladen zu gehen. Vor seiner Zeit im Knast hatte er regelmäßig jeden Dienstag und Freitag nach neuen Platten geschaut.
»Sie können sie haben, wenn Sie wollen«, sagte Carver mit einem Lächeln. »Ich hab sie nicht mal aufgemacht.«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Sie können«, sagte Carver und klopfte ihm jovial auf die Schulter, dann schaute er zu dem Portrait hoch.
Max betrachtete es und erkannte in der Frau eine ältere Version der Judith Carver von den Fotos auf dem Kaminsims und, an ihrem fast lippenlosen Gesicht, die Mutter von Allain Carver. Sie saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl, die Hände übereinander aufs Knie gelegt. Auf einer Säule hinter ihr war die gleiche Vase mit Lilien zu bewundern wie auf dem Couchtisch. Erst da begriff Max, was ihn an den Blumen gestört hatte: Sie waren nicht echt.
»Meine Frau, Judith«, sagte Carver mit einem Nicken.
»Wann ist sie verstorben?«
»Vor fünf Jahren. Krebs«, sagte er und drehte sich zu Max. »Kein Mann sollte seine Frau begraben müssen.«
Max nickte. Von der Seite sah er, wie Gustav die Tränen in die Augen traten und seine Unterlippe bebte, bis er daraufbiss. Er hätte gern etwas Tröstliches oder Aufbauendes gesagt oder getan, aber ihm fehlten die Worte, und er traute seinen Beweggründen nicht.
Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass der alte Mann genauso angezogen war wie er: Gustav trug einen beigen Leinenanzug, ein weißes Hemd und polierte schwarze Lederschuhe.
» Excusez-moi , Monsieur Gustav? «, ließ sich hinter ihnen der Diener vernehmen. Er hatte das Wasser für Max gebracht: ein hohes
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