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Vor aller Augen

Titel: Vor aller Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patterson James
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gesehen. Und jetzt scheren Sie sich zum Teufel!«
    Dann stapfte der Wolf aus dem Nachtclub. Niemand wagte es, ihn aufzuhalten.
    Und niemand sprach mit der New Yorker Polizei, als diese eintraf.
    So war es in Russland.
    So ist es jetzt in Amerika .

44
    Benjamin Coffey wurde in einem dunklen Rübenkeller unter der Scheune, wohin Potter ihn gebracht hatte, gefangen gehalten. Wann war das gewesen? Vor drei, vielleicht vier Tagen? Benjamin konnte sich nicht genau erinnern, vermochte die Tage nicht zu zählen.
    Der Student des Providence College hätte beinahe den Verstand verloren, bis er in dem einsamen Kellergefängnis eine verblüffende Entdeckung machte. Er fand Gott, oder vielleicht fand Gott ihn .

    Urplötzlich spürte Benjamin Gottes Anwesenheit. Gott akzeptierte ihn, und vielleicht war es an der Zeit, dass er Gott akzeptierte. Er begriff, dass Gott ihn verstand. Aber weshalb konnte er, Benjamin, Gott nicht begreifen? Das ergab keinen Sinn. Schließlich hatte er in Providence vom Kindergarten bis zum Abschluss der Highschool katholische Schulen besucht, ehe er am College mit dem Studium von Philosophie und Kunstgeschichte begonnen hatte. In der Dunkelheit seiner »Gefängniszelle« unter der Scheune kam Benjamin zu einer verblüffenden Schlussfolgerung. Er hatte immer gedacht, dass er im Grunde ein guter Mensch sei. Doch wusste er, dass er das nicht war. Und das hatte nichts mit seinem Sexualleben zu tun, wie eine heuchlerische Kirche ihm einzureden versuchte. Seiner Meinung nach war ein schlechter Mensch jemand, der gewohnheitsmäßig anderen Menschen Schaden zufügte. Benjamin war schuldig aufgrund dessen, wie er seine Eltern und Geschwister behandelt hatte, seine Mitschüler, seine Liebhaber, sogar seine so genannten besten Freunde. Er hatte einen bösen Charakter, benahm sich stets arrogant und fügte anderen unnötige Schmerzen zu. So benahm er sich, solange er zurückdenken konnte. Er war grausam, ein Snob, ein Leuteschinder, ein Sadist, ein absolutes Stück Scheiße. Er hatte dieses Verhalten immer damit gerechtfertigt, dass andere Menschen ihm so sehr wehgetan hätten.
    War ihm deshalb das alles zugestoßen? Möglich. Am erstaunlichsten für Benjamin war die Erkenntnis, dass er – falls er je wieder lebend hier herauskäme – sich wohl nicht ändern würde. Tatsächlich glaubte er, dass er diese Erfahrung hier als Entschuldigung vorbringen würde, den Rest seines Lebens ein elender Mistkerl zu bleiben. Kalt, kalt , dachte er. Ich bin eiskalt. Aber Gott liebt mich bedingungslos. Und das wird sich auch nie ändern. Dann wurde Benjamin
klar, dass er hoffnungslos verwirrt war und dass er weinte. Wahrscheinlich weinte er bereits einen ganzen Tag. Er zitterte heftig und brabbelte Unsinn vor sich hin. Er wusste nicht, was er wirklich über irgendetwas dachte. Nein, er war sich über nichts mehr im Klaren.
    Seine Gedanken schweiften hin und her. Er hatte Freunde, großartige Freunde, und er war ein guter Sohn. Warum schwirrten ihm dann diese grauenvollen Gedanken durch den Kopf? Weil er in der Hölle war? War es das? Die Hölle war dieser nach Fäulnis stinkende Rübenkeller unter einer verfallenen Scheune irgendwo in Neuengland, wahrscheinlich in New Hampshire oder Vermont. War das richtig?
    Vielleicht sollte er bereuen und konnte die Freiheit nicht eher erlangen, bis er das tat? Oder vielleicht würde er hier bleiben – auf ewig?
    Er erinnerte sich an etwas aus der katholischen Schule in Great Barrington, Rhode Island. Ein Priester hatte versucht, Benjamin in der sechsten Klasse die Ewigkeit zu erklären. »Stell dir einen Fluss vor, mit einem Berg auf der anderen Seite«, hatte der Priester gesagt. »Und jetzt, Jungen und Mädchen, stellt euch vor, dass alle tausend Jahre ein winziger Spatz alles, was er im Schnabel tragen kann, vom Berg auf die andere Seite des Flusses trägt. Und wenn dieser Spatz den gesamten Berg abgetragen hat, wäre das nur der Anfang der Ewigkeit.« Doch Benjamin glaubte die kleine Geschichte des Priesters nicht, oder doch? Ewiges Höllenfeuer? Jemand würde ihn bald hier finden. Jemand würde ihn hier herausholen.
    Unglücklicherweise glaubte er auch das nicht ganz. Wie konnte ihn hier jemand finden? Nie und nimmer. Gott, die Polizei hatte durch einen glücklichen Zufall die Washingtoner Sniper gefunden, und Malvo und Muhammad waren nicht besonders schlau. Doch Mr.

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