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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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vorbei«, sagte sie. »Mein Vater war nur ein Reflex in einem Fenster. Jetzt ist er fort und kommt nie mehr zurück. Ich kann wieder anfangen zu studieren. Reden wir nicht mehr von mir. Es tut mir leid, wenn du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast.«
    Linda fragte sich, ob Anna von dem Mord an Birgitta Medberg wußte. Die Frage, welche Verbindung zwischen Anna und Birgitta Medberg bestanden hatte, war noch nicht beantwortet. Und Vigsten in Kopenhagen? Fand sich der Name Torgeir Langaas in einem ihrer Tagebücher? Ich hätte sie durchkämmen sollen, dachte Linda boshaft. Ob man eine Seite liest oder tausend, macht keinen Unterschied. Es ist, wie eins der Siegel aufzubrechen, die Papa unermüdlich mit Lack auf den Weihnachtspäckchen anbrachte, als ich klein war. Einmal aufgebrochen, und alle Türen stehen sperrangelweit offen.
    Aber etwas nagte in ihr. Ein Splitter der früheren Unruhe steckte immer noch. Sie beschloß jedoch, zunächst keine Fragen zu stellen.
    »Ich habe deine Mutter besucht«, sagte sie statt dessen. »Sie schien sich keine Sorgen zu machen. Das habe ich als ein Zeichen dafür angesehen, daß sie wußte, wo du warst. Aber daß sie nichts sagen wollte.«
    »Ich habe ihr nicht erzählt, daß ich glaubte, meinen Vater gesehen zu haben.«
    Linda dachte an Henriettas Worte, daß der verschwundene Vater immer in Annas Bewußtsein gewesen sei. Aber wer lügt, wer übertreibt? Linda entschied, daß das im Augenblick unwichtig war.
    »Ich habe gestern meine Mutter besucht«, sagte sie. »Ich wollte sie überraschen. Und das ist mir auch gelungen.«
    »Hat sie sich gefreut?«
    »Nicht besonders. Ich traf sie mitten am Tag nackt in der Küche an, als sie Schnaps aus der Flasche trank.«
    »Du wußtest also nichts davon, daß sie ein Alkoholproblem hat?«
    »Ich weiß auch jetzt nicht, ob sie eins hat. Jeder kann vielleicht mal am hellichten Tag einen trinken.«
    »Da hast du bestimmt recht«, sagte Anna. »Aber ich muß jetzt schlafen. Ich mach dir die Couch zurecht.«
    »Ich gehe nach Hause«, sagte Linda. »Jetzt, wo ich weiß, daß du wieder da bist, kann ich in meinem eigenen Bett schlafen. Obwohl ich morgen früh bestimmt mit meinem Vater aneinandergerate.«
    Linda stand auf und ging in den Flur.
    Anna blieb in der Wohnzimmertür stehen. Das Gewitter hatte sich verzogen. »Ich habe dir nicht vom Ende der Reise erzählt«, sagte Anna. »Von dem, was heute morgen passiert ist, nachdem ich beschlossen hatte, daß mein Vater nie zurückkommen würde. Ich habe jemand anders gesehen. Ich ging zum Bahnhof, um nach Ystad zurückzufahren. Während ich wartete, trank ich am Bahnhof einen Kaffee. Plötzlich setzte sich jemand neben mich. Du rätst nie, wer.«
    »Weil ich es nicht raten kann, muß es die dicke Dame gewesen sein.«
    »Sie war es. Ihr Mann stand im Hintergrund und bewachte einen altmodischen Koffer. Ich weiß noch, daß ich dachte, daß er sicher voller geheimnisvoller Hüte war, die die kommende Mode bestimmen würden. Seine dicke Frau schwitzte und hatte rote Hitzeflecken auf den Wangen. Als ich ihn ansah, lüftete er seinen schönen Hut. Es war, als wären die beiden und ich Teil einer geheimen Verschwörung. Sie beugte sich zu mir hin und fragte, ob ich ihn getroffen hätte. Zuerst wußte ich nicht, wen sie meinte. Ich war müde und hatte meinen Vater ja gerade für immer abgeschafft. Ich hatte ihn ins Kanonenrohr gestopft und den Schuß ins Vergessen abgefeuert. Aber ich wollte sie nicht traurig stimmen. Also sagte ich, ja, ich hätte ihn getroffen. Alles wäre gutgegangen. Ihre Augen fingen an zu glänzen. Dann stand sie auf und sagte: ›Darf ich es meinem Mann erzählen? Wir fahren jetzt nach Halmstad zurück. Es wird eine Erinnerung fürs ganze Leben sein, ein Mädchen getroffen zu haben, das seinen Vater wiedergefunden hat.‹ Dann ging sie zu ihrem Mann und dem Koffer. Ich sah, wie sie anfingen, über etwas zu diskutieren, hörte aber natürlich nicht, worüber. Als ich gerade aufstehen wollte, um zu meinem Zug zu gehen, kam sie noch einmal zurück. ›Ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen‹, sagte sie. ›Anna‹, sagte ich. Dann ging ich, und ich drehte mich nicht um. Und jetzt bist du hier.«
    »Ich komme morgen wieder«, sagte Linda. »Laß uns das nachholen, woraus vor einer Woche nichts geworden ist.«
    Sie verabredeten sich für zwölf Uhr. Linda gab Anna die Wagenschlüssel. »Ich habe dein Auto geliehen. Weil ich nach dir gesucht habe. Morgen fülle ich Benzin nach.«
    »Du

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