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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Fenster gesehen. Er war zurückgekommen.«
    Sie hielt inne und sah auf ihre Hände. Sie ist genauso zurückgekommen, wie sie verschwunden ist, dachte Linda. Sie ist ruhig, nicht besorgt, nichts ist anders. Die Tage, in denen sie fort war, könnten aus ihrem Leben geschnitten werden, ohne daß es zu merken wäre.
    »Was war denn?« fragte Linda.
    »Ich habe nach ihm gesucht. Natürlich hatte ich nicht vergessen, daß du und ich uns treffen wollten. Aber diesmal ging es nicht anders, ich mußte unsere Verabredung sausen lassen. Ich dachte wohl, du würdest es verstehen. Ich hatte vor einem Hotelfenster in Malmö meinen Vater gesehen. Ich hatte das Gefühl, ihn finden zu müssen. Ich war so durcheinander, ich zitterte, ich konnte nicht Auto fahren. Also nahm ich den Zug nach Malmö und fing an, wieder nach ihm zu suchen. Es war ein vollkommen unbeschreibliches Erlebnis, dort durch die Straßen zu gehen und nach ihm zu suchen. Ich suchte ihn mit allen Sinnen, es mußte irgendwo einen Geruch von ihm geben, ein Geräusch. Ich ging langsam, als sei ich ein einsamer Kundschafter vor einer großen Kavallerie, die irgendwo im Hintergrund wartete. Ich wollte den richtigen Weg zum Ziel finden, und das Ziel war mein Vater.
    Ich brauchte mehrere Stunden, um vom Bahnhof zu dem Hotel zu gehen, vor dessen Fenster ich ihn zum erstenmal gesehen hatte. Als ich in die Rezeption kam, saß eine dicke Dame in dem Sessel und döste vor sich hin. Ich wurde wütend. Sie hatte meinen Platz eingenommen, niemand durfte sich in den heiligen Sessel setzen, in dem ich meinen Vater und er mich gesehen hatte. Im Vorbeigehen stieß ich die schnarchende Dame an. Sie fuhr auf. Ich sagte ihr, sie müsse sich woanders hinsetzen, weil die Möbel gleich ausgewechselt würden. Und sie tat, was ich sagte. Wie sie glauben konnte, daß ich etwas mit dem Hotel zu tun hatte, im Regenmantel und mit nassen und verklebten Haaren, ist mir noch immer ein Rätsel. Jetzt setzte ich mich in den Sessel und schaute hinaus. Es war niemand da. Doch ich dachte, er würde zurückkommen, wenn ich nur lange genug sitzen bliebe.«
    Anna machte eine Pause und ging zur Toilette. In der Ferne grollte der Donner. Anna kam zurück und erzählte weiter:
    »Ich saß also in dem Sessel am Fenster. Als die Angestellten in der Rezeption mich mißtrauisch beäugten, buchte ich ein Zimmer. Ich versuchte, mich so wenig wie möglich im Zimmer aufzuhalten. Um nicht zu verraten, daß ich eigentlich nur dasaß und wartete, daß jemand vor dem Fenster auftauchte, kaufte ich in einem Schreibwarenladen ein Heft und tat so, als ob ich mir Notizen machte. Am zweiten Tag kam die dicke Dame wieder. Ich hatte sie nicht bemerkt. Aber sie mußte sich angeschlichen und mir nachspioniert haben und glaubte jetzt, mich entlarvt zu haben. Für sie war ich eine Diebin. Ich hatte unter Vorspiegelung der falschen Tatsache, daß die Möbel ausgewechselt würden, ihren Platz gestohlen. ›Sie sind eine Diebin. Sie haben meinen Platz gestohlene, sagte sie. Sie war so erregt, daß ich fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen. Ich dachte, niemand lügt in einer solchen Sache, niemand erfindet, daß man in einem Sessel sitzt, weil man hofft, seinen Vater vor dem Fenster auftauchen zu sehen, der über zwanzig Jahre verschwunden war. Man kann fast alles zusammenlügen, aber nicht das. Also sagte ich es, genau wie es war. Sie glaubte mir sofort. Sie zweifelte keinen Augenblick. Sie setzte sich in einen anderen Sessel und sagte, sie wolle mir gern Gesellschaft leisten, während ich wartete. Es war vollkommen wahnsinnig. Sie redete ununterbrochen. Ihr Mann nahm an einer Konferenz über Herrenhüte teil. Du kannst lachen, ich habe nicht gelacht, aber es stimmte wirklich, sie beschrieb es in allen Einzelheiten, wie düstere Männer in einem engen Konferenzraum zusammensaßen und Absprachen trafen, auf welche Art von Hüten man in der nächsten Saison setzen wollte. Sie saß da im Sessel und plapperte, es war, als hielte sie eine unbegreifliche Messe, die einem bis dahin unbekannten Herrenhutgott geweiht war. Ich überlegte, ob ich sie ermorden, erwürgen sollte. Aber es war, als zögen ihre Worte am Ende nur wie ein Geruch an mir vorbei, den man eigentlich nicht bemerkt. Dann kam ihr Mann und holte sie ab. Er war genauso dick wie sie, aber er trug einen sicher sehr teuren Hut mit breiter Krempe. Sie, die dicke Dame, und ich hatten uns einander vorgestellt. Jetzt, als sie gehen wollten, sagte sie: ›Hier sitzt eine junge Dame

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