Vor dem Frost
sollst nicht dafür zahlen müssen, daß du dir Sorgen gemacht hast, es wäre mir etwas passiert.«
Linda ging im Nieselregen nach Hause. Das Gewitter war abgezogen, der Wind war eingeschlafen. Der nasse Asphalt duftete. Linda blieb stehen und sog die Luft tief in die Lungen. Alles ist gut, dachte sie. Ich habe mich geirrt, nichts ist passiert.
Der Splitter, der noch in ihr steckte, der kleine Splitter der Unruhe, war fast nicht mehr zu spüren. Nur noch ein bißchen. Sie dachte an das, was Anna gesagt hatte.
Ich habe jemand anders gesehen.
Linda erwachte mit einem Ruck. Das Rollo hing schief, ein Streifen Morgensonne wurde von einem Dach auf der anderen Straßenseite reflektiert und fiel auf ihren Nachttisch. Sie streckte die Hand aus und legte sie in den Sonnenstrahl. Wie fängt ein Tag an? dachte sie. Sie hatte immer das Gefühl, daß kurz vor dem Erwachen ein Traum ihr sagte, daß es Zeit war. Jetzt fing der Tag an. Durch die Jahre hatte sie mit verschiedenen Bildern des Übergangs zwischen Tag und Nacht gespielt. ›Wenn die Dämmerung und der Traum sich über einen Sieger geeinigt habenc, hatte sie vor ein paar Jahren gedacht. Sie hatte sich die Zeile auf ein Blatt Papier geschrieben und eingesehen, daß dies der Gipfel dessen war, was sie an Poesie zustande bringen würde. Aber der Tag konnte auch sein wie das Aufbrechen einer verschlossenen Tür, mit der man die ganze Nacht gekämpft hatte. Sie hatte viele Bilder.
Sie setzte sich im Bett auf. Anna war zurückgekommen. Sie hielt einen kurzen Augenblick den Atem an, wie um sich zu vergewissern, daß es kein trügerischer Traum gewesen war. Aber Anna hatte in ihrem Bademantel mit den abgeschnittenen Ärmeln im Flur gestanden. Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen und streckte sich. Ihre Hand ließ sie in dem Sonnenstrahl liegen. Bald ist Herbst, dachte sie. Im Moment ist mein Leben ausgerichtet auf eine Anzahl kurz bevorstehender Ereignisse. Bald und am wichtigsten: In fünf Tagen kann ich die unsichtbare Uniform gegen eine sichtbare tauschen. Dann die Wohnung, damit mein Vater und ich uns nicht länger auf die Nerven gehen. Bald Herbst, bald der erste Morgen mit Frost. Sie sah auf ihre Hand im Sonnenstrahl. In Gedanken schüttelte es sie jetzt schon. Wegen dem Frost, dachte sie. Oder wegen des Frostes? Wie hieß es eigentlich?
Als sie ihren Vater im Badezimmer rumoren hörte, stand sie auf und fing an zu lachen. Sie kannte keinen, der im Badezimmer solchen Lärm veranstaltete wie er. Als habe er da drinnen einen wütenden Kampf gegen widerspenstige Seifen, Wasserhähne und Handtücher auszufechten. Sie zog den Morgenrock an und ging in die Küche. Es war sieben Uhr. Sie überlegte, ob sie Zebra anrufen und ihr sagen sollte, daß Anna zurückgekommen war. Aber Zebra schlief vielleicht noch. Ihr Sohn war nachts sehr unruhig, und Zebra konnte sehr ärgerlich werden, wenn sie geweckt wurde, nachdem es ihr endlich gelungen war einzuschlafen. Stefan Lindman, dachte Linda. Ihn müßte ich auch anrufen. Aber er kann es aus dem Mund des wütenden Badezimmertigers erfahren.
Ihr Vater kam in die Küche, während er sich noch die Haare trocknete. »Tut mir leid wegen gestern abend«, sagte er.
Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er auf sie zu und beugte den Kopf zu ihr runter. »Kannst du sehen, ob ich Haare verliere?«
Sie fühlte mit den Fingern in den nassen Haaren an seinem Hinterkopf. »Da ist eine kleine Stelle.«
»Verdammt. Ich will keine Glatze kriegen.«
»Großvater hatte doch fast überhaupt keine Haare mehr. Das ist Familienerbe. Du wirst aussehen wie ein amerikanischer Offizier, wenn du sie kurz schneidest.«
»Ich will nicht aussehen wie ein amerikanischer Offizier.«
»Anna ist zurückgekommen.«
Er war gerade dabei, Wasser in einen Topf laufen zu lassen, jetzt stutzte er und drehte den Hahn zu. »Anna Westin?« »Ich weiß von keiner anderen Anna, die weg war. Gestern abend, als ich so sauer war und wegging, fuhr ich zu ihr, um dort zu schlafen. Da stand sie im Flur.«
»Und was ist los gewesen?«
»Sie ist nach Malmö gefahren, hat sich ein Hotelzimmer genommen und nach ihrem Vater gesucht.«
»Hat sie ihn gefunden?«
»Nein. Am Ende sah sie ein, daß sie sich alles nur eingebildet hat. Da ist sie nach Hause gekommen. Das war gestern.«
Er setzte sich an den Tisch. »Sie verbringt eine Reihe von Tagen in Malmö damit, nach ihrem Vater zu suchen. Sie wohnt im Hotel und erzählt niemandem davon, weder dir noch ihrer Mutter.
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