Vor dem Frost
und wartet auf ihren Vater. Sie hat lange gewartet‹ ›Wie lange?‹ fragte der Mann und hob gleichzeitig seinen schönen Hut. ›Fast fünfundzwanzig Jahre‹, sagte sie. Er sah mich an, nachdenklich und prüfend, aber vor allem andächtig. Die Hotelrezeption mit ihren glänzenden, eiskalten Flächen und dem Geruch von Reinigungsmittel in viel zu hoher Konzentration verwandelte sich für einen kurzen Moment in einen Kirchenraum. Er sagte: ›Man kann nie lange genug warten.‹ Dann setzte er seinen Hut auf, und ich sah, wie sie das Hotel verließen. Ich dachte, daß die ganze Situation unbegreiflich und absurd war, aber damit auch vollkommen glaubwürdig.
Fast zwei Tage und Nächte saß ich in dem Sessel. Dann und wann ging ich in mein Zimmer und schlief. In der Minibar im Zimmer waren kleine Flaschen mit Schnaps, Bier und Packungen mit Nüssen. Ich glaube, in der ganzen Zeit habe ich nichts anderes gegessen oder getrunken. Dann wurde mir klar, daß mein Vater überhaupt nicht die Absicht hatte, zu diesem Fenster zurückzukehren. Ich verließ das Hotel, behielt aber das Zimmer. Ich hatte keinen Plan für meine Suche, ich ging durch die Parks, an den Kanälen entlang und durch die verschiedenen Hafenanlagen. Mein Vater war einst fortgegangen, weil er eine Freiheit suchte, die Henrietta und ich ihm nicht geben konnten. Deshalb wollte ich auf den offenen Plätzen nach ihm suchen. Mehrmals glaubte ich, ihn entdeckt zu haben. Mir wurde schwindelig, ich mußte an einer Hauswand oder an einem Baum Halt suchen. Aber er war es nie. Ich dachte, daß mein Vater immer ein anderer war. Das führte dazu, daß all die Sehnsucht, die ich in mir getragen hatte, sich auf einmal in Wut verwandelte. Da ging ich und sehnte mich nach ihm, und er tat nichts, als mich weiterhin zu kränken, indem er sich zuerst gezeigt hatte und dann von neuem verschwunden war. Ich begann natürlich zu zweifeln. Wie konnte ich sicher sein, daß er es war? Alles sprach dafür, daß er es nicht war. Ich lief durch alle Parks von Malmö, es regnete ununterbrochen, und ich war hin und her gerissen zwischen Zweifel und einer absoluten Sicherheit, daß er es wirklich gewesen war. Die zwei letzten Tage schlief ich und war des Nachts draußen. Mehrmals meinte ich ihn zwischen den Schatten erkennen zu können. Die letzte Nacht stand ich draußen im Pildammspark, es war drei Uhr in der Früh, und ich rief in die Dunkelheit hinaus: Papa, wo bist du? Doch niemand kam. Ich blieb bis zur Morgendämmerung im Park. Plötzlich konnte ich ganz deutlich und klar denken, daß ich die letzte große Prüfung im Verhältnis zu meinem Vater hinter mich gebracht hatte. Ich war bis dahin in der nebelhaften Vorstellung befangen, daß er sich mir trotz allem zeigen würde, und schließlich durch die Gewißheit daraus befreit worden, daß er nicht existierte. Doch, vielleicht existiert er, vielleicht ist er trotz allem nicht tot. Aber für mich würde er von nun an eine Phantasiegestalt sein, die ich dann und wann hervorholen konnte, um von ihr zu träumen. Er war kein lebendiger Mensch mehr, keiner, auf den ich warten, ja nicht einmal wütend werden würde. Endlich war er voll und ganz verschwunden. Alles ist gestern morgen dort im Park mit einem Schlag anders geworden. Vierundzwanzig Jahre lang hatte ich in meinem Innersten gedacht, er sei nicht verschwunden. Jetzt, als ich glaubte, er sei wirklich zurückgekommen, verstand ich, daß er fort war und nie zurückkehren würde.«
Das Gewitter zog nach Westen ab. Anna war verstummt und betrachtete wieder ihre Finger. Für Linda sah es so aus, als ob sie sie unentwegt zählte, um zu kontrollieren, daß keiner fehlte.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn ihr eigener Vater verschwunden wäre. Der Gedanke war unmöglich. Er würde immer da sein, ein großer, geduckter Schatten, mal warm, mal kalt, der sie umkreiste und die ganze Zeit beobachtete, was sie tat. Linda wurde plötzlich von dem Gefühl befallen, den größten Fehler ihres Lebens begangen zu haben, als sie sich entschied, in die Fußspuren ihres Vaters zu treten und zur Polizei zu gehen. Warum habe ich das getan? dachte sie. Er wird mich erdrücken mit seiner Freundlichkeit, seinem Verständnis und der ganzen Liebe, die er eigentlich einer anderen Frau zuwenden sollte, nicht seiner Tochter.
Sie schob die Gedanken zur Seite. Jetzt war sie ungerecht, nicht nur ihrem Vater, sondern auch sich selbst gegenüber.
Anna sah von ihren Fingern auf.
»Jetzt ist es
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