Vor dem Frost
sagen, daß das nicht deine Angelegenheit ist? Du hast noch nicht einmal angefangen zu arbeiten.«
Linda streckte den Arm aus, zog den Ärmel hoch und zeigte ihm Amy Lindbergs Telefonnummer.
»Gut so? Jetzt gehe ich ins Bett und schlafe.«
»Ich finde es traurig, daß du nicht mal so viel Respekt vor mir hast, daß du nicht hinter meinem Rücken agierst.«
Linda war fassungslos. »Hinter deinem Rücken? Wovon redest du?«
»Du weißt ganz genau, was ich meine.«
Linda fegte einen Salzstreuer und eine Blumenvase mit verwelkten Rosen vom Tisch. Jetzt war er zu weit gegangen. Sie stürzte hinaus in den Flur, riß ihre Jacke vom Haken und lief aus der Wohnung. Ich hasse ihn, dachte sie, als sie in den Jackentaschen nach dem Wagenschlüssel suchte. Ich hasse sein unglaubliches Gelaber. Ich schlafe keine Nacht mehr in dieser Wohnung.
Sie setzte sich in den Wagen und versuchte sich zu beruhigen. Jetzt glaubt er, daß mein schlechtes Gewissen sich meldet, dachte sie. Er sitzt da und wartet, er ist sicher, daß ich zurückkomme, überzeugt davon, daß Tochter Linda Caroline nur einen kleinen Aufruhr gestartet hat, den sie sofort bereut.
Ich gehe nicht zurück, sagte sie laut. Ich schlafe bei Zebra. Als sie den Wagen anlassen wollte, entschied sie sich anders. Zebra würde anfangen zu reden, Fragen zu stellen, sich zu wundern. Das ertrug sie jetzt nicht. Statt dessen fuhr sie in Annas Wohnung. Ihr Vater konnte an seinem Küchentisch sitzen und warten, bis er grau wurde.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte um und öffnete.
Im Flur stand Anna und sah sie lächelnd an.
»Ich kenne keinen Menschen wie dich, der jederzeit bei mir zu Besuch kommen kann, wie ein Dieb in der Nacht. Ich glaube, es ist so, als hätte ich dich geweckt. Plötzlich bist du aus dem Schlaf hochgefahren und hast gedacht, daß ich zurückgekommen bin. War es nicht so?« sagte Anna heiter.
Linda glitten die Schlüssel aus der Hand und fielen auf den Boden. »Ich verstehe nicht. Bist du es wirklich?«
»Ich bin es.«
»Soll ich froh sein oder erleichtert?«
Anna runzelte die Stirn. »Warum solltest du erleichtert sein?«
»Begreifst du nicht, welche Sorgen ich mir gemacht habe?«
Anna hob die Hände in einer Unterwerfungsgeste. »Ich bin schuldig. Das ist wahr. Ich weiß. Soll ich um Entschuldigung bitten oder erklären, was passiert ist?«
»Du brauchst weder das eine noch das andere zu tun. Es reicht, daß du wieder da bist.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Obwohl Linda noch nicht glauben konnte, daß es wirklich Anna war, die sich gerade auf ihren Lieblingsstuhl setzte, registrierte sie mit einem Zipfel ihres Bewußtseins, daß das Bild mit dem blauen Schmetterling immer noch weg war.
»Ich bin hergekommen, weil mein Vater und ich uns gestritten haben«, erklärte sie. »Weil du nicht hier warst, wollte ich auf deinem Sofa schlafen.«
»Du kannst immer noch hier schlafen, auch wenn ich wieder da bin.«
»Als ich kam, war ich müde. Wütend und müde. Mein Vater und ich sind wie zwei Hähne, die auf einem Misthaufen miteinander kämpfen. Er ist zu klein für uns beide. Wir kommen uns in die Quere und fangen an zu streiten. Tatsächlich haben wir über dich gesprochen.«
»Über mich?«
Linda streckte die Hand aus und berührte Annas nackten Oberarm. Sie trug einen Bademantel, dessen Ärmel aus irgendeinem Grund abgeschnitten waren. Annas Haut war kalt. Es gab keinen Zweifel, daß es Anna war, die zurückgekehrt war, nicht jemand, der ihren Körper geliehen hatte. Annas Haut war immer kalt. Linda wußte das von früher, wenn sie mit dem erschreckenden Gefühl, verbotenes Gelände zu betreten, Totstellen gespielt hatten. Linda war nur heiß geworden und verschwitzt. Anna dagegen war kalt geworden, so kalt, daß sie das Spiel abbrachen, weil die kalte Haut ihnen beiden angst machte. Linda erinnerte sich deutlich, daß damals die große Frage nach dem Tod entschieden wurde. Was überwog, das Verlockende oder das Erschreckende? Seit dem Augenblick, in dem sie das Spiel abgebrochen hatten, war der Tod für Linda immer etwas gewesen, was sich ständig in der Nähe eines Menschen befand, wie geruchloses Gas, fremd, bedrohlich, abwartend.
»Du mußt doch verstehen, daß ich mir Sorgen gemacht habe«, sagte Linda. »Es sieht dir gar nicht ähnlich, zu verschwinden und nicht zu Hause zu sein, wenn du eigentlich eine Verabredung hast.«
»Es war alles ganz verändert. Ich glaubte, meinen Vater gesehen zu haben. Ich hatte ihn durch ein
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