Vor dem Frost
noch zwei Worte kannte: verkleideter Gott. Aber diese beiden Worte waren nie ganz aus seinem Bewußtsein gewichen, und eines Tages im letzten Jahr in Cleveland, als er ernstlich zu begreifen begann, welchen Auftrag Gott ihm gegeben hatte, waren sie ihm wieder in den Sinn gekommen, und er hatte beschlossen, daß dies der Weg war, den sie gehen mußten. Die Auserwählten, die Götter waren, sollten sich als Menschen verkleiden. Erik Westin hatte denen, die er zu seinen Kriegern erwählt hatte, die Worte eingeprägt: ›In diesem heiligen Krieg sind wir schon Gottes Werkzeug. Aber wir sollen die ganze Zeit als Menschen verkleidet sein.‹ Deshalb hatte er auch einen normalen Parkplatz zu ihrem Treffpunkt bestimmt. Auch ein Parkplatz konnte für diejenigen, die sich dafür entschieden, sie zu sehen, eine Kathedrale sein. Die warme Septemberluft, die vom Boden aufstieg, bildete die Säulen, die den mächtigen, aber unsichtbaren Kirchenraum trugen.
Er hatte das Treffen auf drei Uhr am Nachmittag festgesetzt. Sie sollten alle gewöhnliche Verkleidung tragen, als Touristen, Polen auf Einkaufsreise in Schweden, allein oder in Gruppen. Sie sollten aus verschiedenen Richtungen kommen und von Erik, an dessen Seite Torgeir Langaas sich befinden würde, letzte Instruktionen erhalten.
Erik hatte die letzten Wochen in einem Wohnwagen auf einem Campingplatz in Höör verbracht. Aus der Wohnung, die er zuvor in Helsingborg gemietet hatte, war er ausgezogen. Den gebrauchten Wohnwagen hatte er billig in Svedala gekauft und mit seinem altersschwachen Volvo zu dem Campingplatz gezogen. Abgesehen von seinen Treffen mit Torgeir und den Aufgaben, die sie gemeinsam durchführten, hatte er seine Zeit mit Beten und anderen Vorbereitungen im Wohnwagen verbracht. Jeden Morgen hatte er in dem kleinen Rasierspiegel an der Wand sein Gesicht betrachtet und sich gefragt, ob es die Augen eines Wahnsinnigen waren, die ihm entgegenstarrten. Niemand konnte Prophet werden, dachte er zuweilen, in dessen geistlichem Rüstzeug die Demut nicht einen entscheidenden Platz einnahm. Stärke zu besitzen hieß, sich selbst die schwierigsten aller Fragen zu stellen. Auch wenn er nie in seiner Überzeugung schwankend wurde, was die große Aufgabe betraf, die Gott ihm auferlegt hatte, wollte er sich dessen versichern, daß er nicht von seiner eigenen Hybris betrogen wurde. Doch die Augen, die ihm jeden Morgen im Spiegel begegneten, verrieten nur, daß er der war, für den er sich hielt. Der auserwählte Führer. Es lag kein Wahnsinn in der großen Aufgabe, die ihnen bevorstand, alles war bereits in der Bibel ausgelegt. Das Christentum war in einen Sumpf von Wahnvorstellungen gesunken und hatte Gott all seiner Kraft beraubt, so daß er nichts anderes mehr schaffte, als auf denjenigen zu warten, der erkannte, was vorging, und sich als das Werkzeug zur Verfügung stellte, das die Entwicklung ein für allemal umkehren würde.
Erik Westin hatte in seinem Wohnwagen gesessen und gedacht, daß Gott ein logisch denkendes Wesen war. Er war der große Mathematiker jenseits der äußersten Grenze; aus seinem Bewußtsein würde immer der Geist kommen, auf den jeder Mensch ein Recht hatte. ›Es gibt nur einen Gottc, begann Erik Westin alle seine Gebete. ›Es gibt nur einen Gott, und seinen einzigen Sohn, den wir kreuzigen ließen. Dieses Kreuz ist unsere einzige Hoffnung. Das Kreuz ist aus einfachem Holz, nicht aus Gold oder kostbarem Marmor. Die Wahrheit liegt in der Armut und Einfachheit. Die große Leere, die wir in uns haben, kann nur mit der Kraft des Heiligen Geistes ausgefüllt werden, nie mit materiellem Besitz und Kostbarkeiten, wie sehr diese uns auch mit ihrem verführerischen Glanz locken.‹ Die letzten Wochen waren eine Zeit des Wartens gewesen, des Kräftesammelns, der Konzentration. Täglich hatte er lange Zwiesprache mit Gott gehalten. In dieser letzten Zeit hatte er auch die Bestätigung dafür erhalten, daß er zum richtigen Zeitpunkt zurückgekehrt war. Die Menschen, die er einst verlassen hatte, hatten ihn noch nicht vergessen. Er war da, und sie verstanden, warum er fort gewesen und warum er zurückgekommen war. Wenn eines Tages alles vorbei war, würde er sich von der Welt zurückziehen und enden, wie er angefangen hatte, mit dem Anfertigen von Sandalen. Er würde seine Tochter an seiner Seite haben, und alles wäre vollbracht.
In dieser Zeit dachte er auch viel an Jim Jones. Den Mann, der ihn einst betrogen hatte, den falschen Propheten, der nichts
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