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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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anderes war als ein gefallener Engel. Immer noch konnte ihn eine Mischung von Wut und Verzweiflung überkommen, wenn er an die Zeit zurückdachte, die er mit Jim zusammen, als Mitglied in seiner Gemeinde, gelebt hatte. Er dachte an den Auszug aus den USA in den Dschungel von Guyana, die erste Zeit des Glücks und dann den furchtbaren Verrat, der dazu geführt hatte, daß alle zum Selbstmord gezwungen oder ermordet worden waren. In seinen Gedanken und Gebeten war immer ein Platz für diejenigen, die dort im Dschungel gestorben waren. Eines Tages würden sie von all dem Bösen, das Jim Jones getan hatte, befreit und auf die höchste Stufe gehoben werden, wo Gott und das Paradies warteten.
    Der Campingplatz lag an einem See. Jeden Abend ging er um den See herum. Es duftete nach Moos und Bäumen. Draußen auf dem Wasser sah er manchmal Schwäne, die sich langsam zum anderen Ufer hin bewegten. Alle Opfer werden gebracht, um Leben zu schaffen, dachte er. Niemand weiß, ob wir diejenigen sind, die leben sollen, oder die, die geopfert werden. Jetzt hatte er die alten Opferzeremonien aus der entlegenen Zeit, als das Christentum sich ausbildete, wieder eingeführt. Leben und Tod hingen immer zusammen. Gott war logisch, er war klug. Zu töten, um zu leben, war ein wichtiger Teil des Wegs hin zu einem Zustand, in dem die Leere im Innern des Menschen verschwunden war.
    Eines Nachts, als ein Gewitter über den See zog, lag Erik Westin wach und dachte über all die gottlosen Religionen nach, die in der langen Zeit des Verfalls des Christentums entstanden waren. Es war wie ein Schiff, das sich langsam mit Wasser füllte, dachte er. Ein sinkendes Schiff. Alle diese gottlosen Lehren waren wie Piraten gewesen. Die Juden, die Moslems, alle, die versuchten, sich in den Herzen der Menschen einzunisten und sie dazu zu bringen, Götter anzubeten, die nicht existierten, oder die den wahren Gott leugneten.
    Jetzt war der Augenblick gekommen. Gott hatte sich ihm offenbart. Er war das Feuer gewesen, dessen Flammen von den Flügeln der brennenden Schwäne, den Augen des Stierkalbs und all den aus ihren Käfigen befreiten Mäusen aufgestiegen waren. Die Feuer waren jetzt angezündet. Der Augenblick war gekommen.
    Am Morgen des Tages, an dem sie sich auf dem Parkplatz treffen sollten, ging Erik Westin hinunter ins dunkle Wasser des Sees, das noch ein wenig von der Sommerwärme gespeichert hatte. Er wusch sich gründlich, schnitt sich die Nägel, rasierte sich. Er war allein auf dem einsam gelegenen Campingplatz. Nachdem Torgeir angerufen hatte, warf er das Handy in den See. Dann kleidete er sich an, legte seine Bibel und sein Geld in den Volvo und fuhr ihn auf die Straße. Danach war nur noch eins zu tun. Er setzte den Wohnwagen in Brand und fuhr davon.
    Sie waren sechsundzwanzig, sie kamen aus verschiedenen Ländern und hatten ein Kreuz auf die Brust neben dem Herzen tätowiert. Außer Erik Westin und Torgeir Langaas waren es siebzehn Männer und neun Frauen. Die Männer kamen aus Uganda, Frankreich, England, Spanien, Ungarn, Griechenland, Italien und den USA. Die Frauen waren Amerikanerinnen, eine Kanadierin und eine Britin, die lange in Dänemark gelebt und die Sprache gelernt hatte. Es gab keine Ehepaare unter ihnen, sie alle waren sich vorher noch nie begegnet. Erik hatte seine Kontakte mit Hilfe eines heiligen Stafettenprinzips aufgebaut. Durch Torgeir Langaas war er mit der Kanadierin Allison in Kontakt gekommen. Sie hatte einmal einen Artikel über ihre religiöse Sehnsucht geschrieben. Die Zeitschrift war Torgeir in die Hände gefallen, bevor er an seinen Tiefpunkt gelangt war. Der Artikel hatte etwas, was ihn ansprach, und er riß ihn heraus und hob ihn auf. Und Allison ihrerseits hatte, nachdem sie eine überzeugte Jüngerin Eriks geworden war, einen Mann in Maryland, USA, vorgeschlagen, den sie kannte.
    Erik hatte vier Jahre gebraucht, um den Kern der christlichen Armee aufzubauen, die er in die Schlacht führen wollte. Er war umhergereist und hatte all diese Menschen getroffen, nicht einmal, sondern mehrmals, und er hatte ihre Entwicklung genau verfolgt. Vielleicht hatte er trotz allem etwas Gutes von Jim Jones gelernt, die Fähigkeit, Menschen zu lesen, zu entdecken, wenn sie noch zweifelten, auch wenn sie versuchten, diesen Zweifel zu verbergen oder zu leugnen. Erik Westin wußte, daß er sehen konnte, wann ein Mensch die endgültige Grenze überschritten hatte, sich von seinem früheren Leben befreit hatte und ganz in seiner

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