Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
einmal, daß du gestern in Malmö warst. Ich dachte, du bist in Lund, wenn du wegfährst. Wegen deiner Prüfungen oder was du nun da machst.«
    Anna sah sie nachdenklich an. »Du glaubst mir nicht.«
    »Du glaubst dir selbst nicht.«
    »Es war mein Vater, den ich auf der Straße gesehen habe.«
    Sie atmete tief durch. »Du hast recht. Ich war in Lund. Als ich in Malmö umsteigen wollte, hatte es irgendwo draußen bei Skurup einen Defekt an einer Weiche gegeben. Ein Zug fiel aus. Plötzlich hatte ich zwei Stunden freie Zeit. Es ärgerte mich, weil ich es hasse zu warten. Ich habe nie gelernt, Geduld zu haben. Nie begriffen, daß Zeit etwas ist, was man verliert oder zugute hat. Während man wartet, kann man etwas anderes tun. Aber ich ärgere mich nur. Ich ging in die Stadt, ganz planlos. Nur um diese Zeit totzuschlagen. Irgendwo kaufte ich ein Paar Strümpfe, die ich gar nicht brauchte. Vor dem Hotel St. Jörgen war eine Frau auf der Straße umgefallen. Ich ging weiter, es berührt mich immer unangenehm, wenn jemand plötzlich krank wird oder ohnmächtig wird. Ihr Rock war hochgerutscht, und es empörte mich, daß niemand ihn herunterzog. Ich war sicher, daß sie tot war. Die Menschen um sie herum standen da und schauten sie an, als wäre sie ein totes Tier, das an den Strand gespült worden war. Ich lief weiter, zum Triangel hinauf, und da ging ich ins Hotel, um den gläsernen Aufzug zum Dach hinauf zu nehmen. Ich mache das meistens, wenn ich in Malmö bin, erhebe mich wie in einem Glasballon zum Himmel. Aber diesmal ging es nicht. Man muß den Aufzug mit seinem Zimmerschlüssel öffnen. Ich war so enttäuscht. Es kam mir vor, als hätte mir jemand ein Spielzeug weggenommen. Ich setzte mich in einen der Sessel am Fenster und wollte da bleiben, bis es Zeit wäre, wieder zum Bahnhof zu gehen.
    Und da entdeckte ich ihn. Er stand draußen auf der Straße, es kamen plötzliche Windböen, die das Fenster erzittern ließen. Ich blickte auf, und da stand er auf dem Bürgersteig und sah mich an. Unsere Blicke trafen sich, wir starrten uns vielleicht fünf Sekunden lang an. Dann senkte er den Blick und ging weiter. Ich war so geschockt, daß ich nicht auf den Gedanken kam, ihm zu folgen. In dem Moment glaubte ich auch nicht, daß er es war. Es mußte eine Fata Morgana gewesen sein, eine Sinnestäuschung, das kommt ja manchmal vor, daß man glaubt, in einer wildfremden Person auf der Straße einen Menschen aus der Vergangenheit zu erkennen. Als ich schließlich auf die Straße hinauslief, war er natürlich fort. Ich ging zum Bahnhof zurück, schlich mich wie ein Raubtier durch die Straßen und versuchte, Witterung aufzunehmen, um ihn aufzuspüren. Aber er war verschwunden. Ich war so erregt, so aufgewühlt, daß ich den Zug fahren ließ und noch einmal die Straßen im Zentrum durchstreifte. Aber er war nirgendwo. Dennoch war ich sicher. Es war mein Vater, der da auf der Straße gestanden hatte. Er war älter als auf den Fotos. Aber ich hatte das Gefühl, als gelänge es mir, einen weiteren Kasten mit Fotos aus der Erinnerung heraufzuholen, Bilder, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Da war er, und ich war total überzeugt. Mama hat einmal seinen Blick so beschrieben, daß er immer erst mit einer gleitenden Bewegung die Augen zum Himmel wandte, bevor er etwas sagte. Und das genau tat er da vor dem Fenster. Er hatte nicht so langes Haar wie damals, als er verschwand, und eine andere Brille, nicht die mit der dicken schwarzen Fassung, es war eine randlose Brille. Ich bin sicher. Ich habe dich angerufen, weil ich einfach mit jemandem sprechen mußte, um nicht verrückt zu werden. Es
war
mein Vater. Und nicht nur ich erkannte ihn, er hatte mich zuerst gesehen und war stehengeblieben, weil er mich erkannt hatte.«
    Linda spürte, daß Anna wirklich überzeugt war, ihren Vater vor dem Hotelfenster beim Triangel gesehen zu haben. Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was sie über das Gedächtnis gelernt hatte, das Erinnerungsvermögen von Zeugen, über nachträgliche Konstruktionen und reine Einbildung. Sie dachte an das, was sie über Personenbeschreibungen und die Computerübungen wußte, die sie an der Polizeihochschule gemacht hatten. Jeder mußte ein Bild von sich selbst in zwanzig Jahren herstellen. Linda hatte gesehen, wie sie mit zunehmendem Alter ihrem Vater immer ähnlicher wurde, vielleicht sogar ihrem Großvater. Wir wandern auf den Wegen der Eltern und Großeltern, hatte sie gedacht. Irgendwo in unseren

Weitere Kostenlose Bücher