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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Gesichtern treten im Laufe des Lebens all unsere Ahnen in Erscheinung. Gleicht man als Kind seiner Mutter, nimmt man im Alter Gesichtszüge seines Vaters an. Wenn man sein Gesicht nicht wiedererkennt, sind es die seit langem vergessenen Vorfahren, die kurz zum Vorschein kommen. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß es wirklich Annas Vater gewesen war. Er hätte kaum eine erwachsene Frau erkennen können, die er als kleines Kind zum letztenmal gesehen hat. Es sei denn, er hatte heimlich ihre Entwicklung verfolgt und sich neben ihr befunden, ohne daß sie davon wußte. Linda überdachte schnell noch einmal, was sie über den geheimnisvollen Erik Westin wußte. Annas Eltern waren bei der Geburt ihrer Tochter sehr jung gewesen. Sie kamen beide aus einem großstädtischen Milieu, waren aber von der Welle grüner Unschuld mitgezogen worden, die zur Entstehung von Landkommunen in entvölkerten smaländischen Dörfern führte. Linda hatte eine vage Erinnerung daran, daß Erik Westin ein guter Handwerker gewesen war, der originelle und äußerst fußgerechte Sandalen anfertigte. Aber sie hatte auch gehört, daß Annas Mutter ihn einen verantwortungslosen Taugenichts nannte, einen Haschisch rauchenden Mann, der die Passivität zum Lebensstil erkoren hatte und nicht wußte, was es bedeutete, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Aber warum war er eigentlich weggegangen? Es gab keinen Abschiedsbrief und auch keine Andeutungen oder Vorbereitungen einer Flucht. Die Polizei hatte nach ihm gefahndet, doch es gab keine Hinweise darauf, daß irgendein Verbrechen vorlag.
    Erik Westin mußte seine Flucht sorgfältig geplant haben. Er hatte seinen Paß und das Geld, das er besaß, mitgenommen. Es konnte nicht viel gewesen sein; ihre Einkünfte waren gering. Das meiste mußte er für den Verkauf des Familienautos bekommen haben, das eigentlich Annas Mutter gehörte, denn sie war diejenige, die durch Nachtwachen im Krankenhaus Geld verdient und gespart hatte. Erik Westin war eines Tages einfach verschwunden. Es war früher schon vorgekommen, daß er verschwand, ohne Bescheid zu sagen. Deshalb hatte Annas Mutter zwei Wochen gewartet, bevor sie anfing, sich Sorgen zu machen, und zur Polizei ging und ihn als vermißt meldete.
    Linda erinnerte sich daran, daß ihr Vater in irgendeiner Form mit der Nachforschung zu tun hatte. Doch weil kein Verdacht auf ein Verbrechen vorlag, war Erik Westin ein Fall unter vielen anderen geworden. Nichts belastete ihn, keine Anklage, keine Vorstrafe. Aber es ließ auch nichts darauf schließen, daß er von geistiger Verwirrung befallen worden wäre. Einige Monate vor seinem Verschwinden hatte er sich einer ärztlichen Untersuchung unterzogen und sich als vollkommen gesund erwiesen, von einem geringfügigen Blutmangel abgesehen.
    Linda wußte aus der Statistik, daß die meisten Vermißten, die gesucht werden, wieder auftauchen. Unter denen, die nicht zurückkamen, waren viele Selbstmörder, und die meisten anderen blieben freiwillig weg. Nur eine kleine Anzahl fiel Verbrechen zum Opfer. Das waren die, die an unbekannten Orten vergraben oder, mit Gewichten beschwert, im Meer oder in Binnenseen versenkt worden waren.
    »Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«
    »Noch nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Ich weiß nicht. Es war so ein Schock für mich.«
    »Im Innersten bist du nicht überzeugt, daß er es war, der da vor dem Fenster stand.«
    Anna sah sie flehentlich an. »Ich weiß, daß er es war. Wenn er es nicht war, muß es ein Kurzschluß in meinem Gehirn gewesen sein. Deshalb habe ich dich gefragt, ob du jemals Angst gehabt hättest, verrückt zu werden.«
    »Warum sollte er jetzt zurückkommen? Nach vierundzwanzig Jahren? Warum steht er da und sieht dich durch ein Fenster an? Woher wußte er, daß du da warst?«
    »Ich weiß es nicht.«
    Anna stand erneut auf, ging zum Fenster und wieder zurück. »Manchmal habe ich gedacht, daß er gar nicht verschwunden ist. Daß er es nur vorzog, sich unsichtbar zu machen.«
    »Aber warum?«
    »Ich glaube, da war etwas, was er nicht ertrug. Es hatte nichts mit mir oder Mama zu tun. Ich glaube, es war das Gefühl, daß er mehr wollte. Das Leben mußte doch mehr sein. Schließlich trieb ihn das fort von uns. Vielleicht versuchte er, vor sich selbst davonzulaufen. Es gibt Menschen, die träumen davon, wie Schlangen zu sein, ein Tier, das aus seiner Haut schlüpfen kann. Aber vielleicht hat er sich die ganze Zeit hier dicht bei mir befunden, ohne daß ich etwas davon

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