Vor dem Frost
wußte nicht, wie Torgeir die leerstehenden Häuser fand, in denen sie nicht mit unerwartetem Besuch rechnen mußten. Das war das Vertrauen, das er Torgeir erwies: Er verließ sich darauf, daß er keine Fehler machte.
Als Torgeir gefahren war, um Anna zu holen, ging Erik Westin in den Keller. Torgeir hatte sich wirklich zu einem ausgezeichneten Spürhund entwickelt, was das Auffinden der Verstecke betraf, die alle seine wechselnden Forderungen erfüllten. Gerade dieses Haus verfügte über einen schalldichten Raum, in dem man einen Menschen für ein paar Tage einschließen konnte. Der alte Kapitän hatte sein Haus mit dicken Wänden bauen lassen, und ein Kellerraum hatte eine Tür mit einem kleinen Fenster. Als Torgeir es ihm zeigte, sprachen sie darüber, daß es so aussah, als habe der Kapitän seine private kleine Gefängniszelle im Haus. Sie hatten nie eine plausible Erklärung dafür gefunden, warum der Kapitän die Zelle eingerichtet hatte. Torgeir hatte gemeint, sie sei vielleicht als Schutzraum für den Fall eines Atomkriegs gedacht. Doch was sollte das Fenster in der Tür?
Er blieb stehen und lauschte. Am Anfang, als sie aus der Betäubung erwacht war, hatte sie geschrien und an die Wände geschlagen und den Eimer, der als Toilette gedacht war, umgetreten. Als sie längere Zeit still gewesen war, hatte er vorsichtig durch das Fenster geschaut. Sie saß zusammengekauert auf dem Bett. Auf einem Tisch standen Wasser, Brot und Aufschnitt. Er sah, daß sie nichts angerührt hatte, womit er auch nicht gerechnet hatte.
Auch jetzt war es still, als er wieder in den Keller hinunterkam. Er ging mit lautlosen Schritten durch den Gang und blickte vorsichtig durch das Fenster. Sie lag auf dem Bett, wandte ihm den Rücken zu und schlief. Er mußte lange hinsehen, bis er sicher war, daß sie atmete. Dann ging er wieder hinauf und setzte sich auf die Veranda, um auf Torgeirs Rückkehr mit Anna zu warten. Es gab immer noch ein Problem, das er bisher nicht gelöst hatte. Bald, sehr bald würde er gezwungen sein, einen Beschluß darüber zu fassen, was mit Henrietta geschehen sollte. Bisher hatten Torgeir und Anna es geschafft, sie davon zu überzeugen, daß alles mit rechten Dingen zuging. Aber Henrietta war unzuverlässig und launisch. Das war sie immer gewesen. Wenn er konnte, wollte er ihr Leben schonen. Aber wenn es sich als notwendig erweisen sollte, würde er auch nicht zögern, sie verschwinden zu lassen.
Er saß auf der Veranda und blickte aufs Meer. Einst hatte er Henrietta geliebt. Auch wenn diese Liebe in einen Schimmer von Unwirklichkeit eingebettet war und so weit zurücklag, daß sie ihm nicht wie etwas vorkam, was er erlebt hatte, sondern wie etwas, wovon er hatte erzählen hören, war die Liebe nie ganz erloschen. Erst als Anna zur Welt gekommen war, hatte er die große Liebe gefühlt, aber obwohl er seine Tochter vom ersten Augenblick an geliebt hatte, nie müde wurde, sie im Arm zu halten, sie anzusehen, wenn sie schlief oder spielte, hatte die Liebe auch eine große Leere beinhaltet, die am Ende dazu führte, daß er aufbrach und die beiden verließ. Als er ging, hatte er gedacht, daß er bald zurückkommen würde, daß er vielleicht nur ein paar Wochen, höchstens einen Monat fortbleiben würde. Doch schon in Malmö hatte er eingesehen, daß die Reise, die er angetreten hatte, sehr viel länger dauern, daß sie vielleicht nie enden würde. Auf dem Bahnhof hatte es einen kurzen Augenblick gegeben, in dem er fast beschlossen hatte umzukehren. Aber er konnte nicht, das Leben mußte mehr und mußte etwas anderes sein als das, was er bis dahin erfahren hatte.
Er dachte an die gewesene Zeit zurück als an eine Wanderung, geradewegs hinaus in die Wüste. Der erste Schritt war die Flucht, die verworrene Pilgerfahrt ohne Ziel. In dem Augenblick, als er sich entschlossen hatte, den letzten festen Halt loszulassen und sich das Leben zu nehmen, hatte Pastor Jim Jones seinen Weg gekreuzt. Er war die Oase in der Wüste.
Zuerst hatte er geglaubt, es sei eine Fata Morgana, doch dann hatte er gespürt, daß es echtes Quellwasser war, das durch seine Kehle lief. Jim hatte immer vom Wasser gesprochen, es war das heiligste aller Getränke, heiliger als der Wein. Und dann hatte es sich trotz allem als Fata Morgana erwiesen.
Unten am Strand gingen einige Menschen spazieren. Einer von ihnen hatte einen Hund, ein anderer trug ein kleines Kind auf den Schultern. Für euch tue ich, was ich hier tue, dachte er. Um euretwillen
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