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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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fahren? Ist der Wagen überhaupt noch da? Sie ging hinunter in den Hof, der Wagen stand da. Sie versuchte zu denken, doch die Angst blockierte sie. Zuerst hatte sie sich um Anna Sorgen gemacht. Dann war Anna zurückgekommen. Jetzt war Zebra verschwunden, und ihre Unruhe galt jetzt ihr. Plötzlich sah Linda, was sie so verwirrte. Es hatte mit Anna zu tun. Zuerst hatte sie Angst gehabt, Anna könnte etwas zugestoßen sein, und jetzt galt ihre Angst dem, was Anna tun könnte.
    Sie trat so heftig gegen einen Stein, daß ihr der Zeh weh tat. Ich sehe Gespenster, dachte sie. Was sollte Anna denn tun können? Sie begann in die Richtung des Hauses zu gehen, in dem Zebra wohnte. Nach ein paar Metern stoppte sie, machte kehrt und holte Annas Wagen. Normalerweise pflegte sie einen Zettel zu schreiben, doch jetzt war die Zeit zu knapp. Sie fuhr auf direktem Weg und viel zu schnell zu Zebra. Die Nachbarin war mit dem Jungen draußen, aber ihre halbwüchsige Tochter, die Linda wiedererkannte, gab ihr den Schlüssel zu Zebras Wohnung. Linda ging hinein, machte die Tür zu und sog von neuem den seltsamen Geruch in die Nase. Warum untersucht das keiner? dachte sie. Kann es ein Betäubungsmittel sein?
    Linda stand mitten im Wohnzimmer. Sie bewegte sich lautlos, atmete vorsichtig, als wolle sie die Wohnung im Glauben lassen, daß sie leer wäre. Sie dachte:
Jemand kommt hier herein. Zebra schließt selten ab, jemand öffnet und geht hinein. Der Junge ist hier. Aber er kann nicht erzählen,
was passiert ist. Zebra wird betäubt und weggebracht, der Junge schreit, und die Nachbarin erscheint auf der Bildfläche.
    Linda sah sich um. Wie findet man Spuren? dachte sie. Ich sehe nur eine Wohnung, die leer ist, und ich kann die Leere nicht durchschauen. Sie zwang sich, klar zu denken. Zumindest gelang es ihr, die wichtigste Frage zu formulieren: Wer kann etwas wissen? Der Junge hat es gesehen, kann aber nicht erzählen. In Zebras Nähe gab es niemanden, der Informationen beisteuern konnte. Also mußte sie zu Anna übergehen. Wen gab es da? Die Antwort war klar, ihre Mutter Henrietta, die sie schon vorher im Verdacht gehabt hatte. Was hatte sie gedacht, als sie sie zum erstenmal besuchte? Daß Henrietta nicht die Wahrheit sagte, daß sie wußte, warum Anna fort war, und daß sie sich deshalb keine Sorgen machte.
    Aus Ärger darüber, daß sie nicht schon damals tiefer in dem, was sie ahnte, gegraben hatte, trat sie gegen einen Stuhl. Der Schmerz von dem Tritt gegen den Stein wurde noch schlimmer. Sie verließ die Wohnung.
    Jassar fegte vor seinem Laden. »Haben Sie sie gefunden?« fragte er.
    »Nein. Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
    Jassar seufzte. »Nichts mehr. Mein Gedächtnis ist schlecht, aber ich bin sicher, daß Zebra an diesem Mann hing.«
    »Nein«, entgegnete Linda und spürte ein Bedürfnis, Zebra zu verteidigen. »Sie hing nicht an ihm, sie war betäubt. Was Ihrer Meinung nach aussah wie eine Frau, die sich an jemanden hängte, war eine Frau, die betäubt worden war.«
    Jassar machte ein bekümmertes Gesicht. »Da können Sie recht haben«, sagte er. »Aber passiert so etwas wirklich? In einer Stadt wie Ystad?«
    Linda hörte nur noch halb, was Jassar sagte. Sie war schon auf dem Weg über die Straße, um ins Auto zu steigen und zu Henrietta zu fahren. Sie hatte gerade den Motor angelassen, als ihr Handy klingelte. Sie zögerte, meldete sich dann aber doch. Es war Stefan Lindman. Sie freute sich, seine Stimme zu hören.
    »Wo bist du?«
    »In einem Auto.«
    »Dein Vater bat mich, dich anzurufen. Er wollte wissen, wo du bist. Und wo ist Anna Westin?«
    »Ich habe sie nicht gefunden.«
    »Was meinst du damit?«
    »Kann ich damit so viele Dinge meinen? Ich bin zu ihrer Wohnung gegangen, sie war nicht da. Ich versuche herauszufinden, wo sie sein kann. Wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie mit zu euch.«
    Warum bin ich nicht ehrlich? dachte sie. Habe ich das zu Hause gelernt, von zwei Eltern, die nie offen sprachen, sondern immer Umwege wählten?
    Es war, als habe er sie durchschaut. »Ist alles in Ordnung?«
    »Abgesehen davon, daß ich Anna nicht gefunden habe, ja.«
    »Brauchst du Hilfe?«
    »Nein.«
    »Das klingt aber nicht überzeugend. Denk dran, du bist noch keine Polizistin.«
    Linda wurde wütend. »Wie soll ich das vergessen können, wenn alle Welt mich daran erinnert?«
    Sie beendete das Gespräch, schaltete das Handy aus und warf es auf den Sitz. Als sie um die Straßenecke gefahren war, bremste sie und schaltete es

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