Vor dem Frost
Haustür ging auf. Er lauschte. In den schweren Jahren hatte er viel Zeit darauf verwandt, die Empfindsamkeit aller seiner Sinne zu trainieren. Als hätte er die Schneide des Gehörs, des Seh- und des Geruchssinns geschliffen. Manchmal stellte er sich die Sinne wie scharfe Messer vor, die unsichtbar an seinem Gürtel hingen. Er horchte auf die Schritte. Torgeirs schwerere – und die leichteren, Anna war mitgekommen. Torgeir schleppte sie nicht, sie bewegte sich in ihrem eigenen Tempo, also hatte er keine Gewalt anwenden müssen.
Sie kamen auf die Veranda heraus. Er stand auf und umarmte Anna. Sie war unruhig, das sah er, aber nicht so schlimm, daß es ihm nicht gelingen würde, sie zu beruhigen. Mit dieser Ruhe würde er auch die letzten Bastionen ihres Willens, die noch Widerstand leisteten, besiegen. Er bat sie, sich zu setzen, während er Torgeir zur Tür begleitete. Sie sprachen leise miteinander. Die Auskunft, die Torgeir ihm gab, beruhigte ihn. Die Ausrüstung lag in sicherem Gewahrsam, die Menschen warteten in den beiden Häusern. Keiner hatte Anzeichen von etwas anderem als Ungeduld erkennen lassen. »Es ist der Hunger«, sagte Torgeir. »Hunger und Gier.«
»Wir nähern uns der fünfzigsten Stunde. In zwei Tagen und zwei Stunden verlassen wir unsere Verstecke und schreiten zum ersten Angriff.«
»Sie war völlig ruhig, als ich sie holte. Ich habe ihre Stirn befühlt, ihr Puls war normal.«
Der Zorn kam aus dem Nichts. »Nur ich, nur ich allein habe das Recht, den Finger an die Stirn eines Menschen zu legen und seinen Puls zu fühlen. Nicht du, niemals du.«
Torgeir erbleichte. »Ich hätte es nicht tun dürfen.«
»Nein. Aber es kann etwas geben, was du für mich tun kannst. Damit ich es vergesse.«
»Was?«
»Annas Freundin. Die so neugierig ist, viel zu interessiert. Ich spreche jetzt mit Anna. Wenn dieses Mädchen Verdacht schöpft, muß sie verschwinden.«
Torgeir nickte.
»Ich nehme an, du verstehst, wen ich meine?«
»Das Mädchen, das die Tochter eines Polizeibeamten ist. Sie heißt Linda.«
Er machte Torgeir ein Zeichen, zu verschwinden, und ging leise durchs Wohnzimmer zurück Richtung Veranda. Anna saß auf einem Stuhl an der Wand. Sie ist wie ich, dachte er. Sie setzt sich immer so, daß sie den Rücken frei hat. Sie wirkte ruhig. Aber irgendwo in ihm nagte ein Zweifel. Das war vernünftig – nur ein unbedachter Mensch nahm seinen eigenen Zweifel nicht ernst. Die wichtigsten Wachposten hat man in sich, wie Schutzengel und verschiedene Alarmsysteme, die vor Gefahren warnen. Er betrachtete sie erneut. Plötzlich wandte sie sich um in seine Richtung. Er zog sich hinter die Tür zurück. Hatte sie ihn gesehen? Es beunruhigte ihn, daß seine Tochter ihn auf so viele unterschiedliche Weisen unsicher machen konnte. Es gibt ein Opfer, das ich nicht bringen will, dachte er. Ein Opfer, das ich fürchte. Aber ich muß darauf gefaßt sein, daß es notwendig werden kann. Nicht einmal meine Tochter kann verlangen, immer davonzukommen. Niemand kann das, außer mir.
Er trat auf die Veranda hinaus und setzte sich Anna gegenüber. Er wollte anfangen zu sprechen, als das Unerwartete geschah. Eigentlich war es der Fehler des Kapitäns, und im stillen verfluchte er ihn. Die Wände waren nicht so dick, wie er geglaubt hatte. Ein Geheul stieg durch den Fußboden vom Keller herauf. Anna erstarrte. Das Heulen ging in ein Brüllen über, wie wenn sich ein wildes Tier in äußerster Not durch den Zement beißt, um die Freiheit wiederzuerlangen.
Zebras Stimme. Zebras Heulen. Anna starrte ihn an, ihn, der ihr Vater war, aber auch so vieles mehr. Er sah zu, wie sie sich so fest auf die Unterlippe biß, daß es zu bluten begann.
Der Abend und die Nacht sollten lang und schwierig werden, erkannte er. Plötzlich war er sich nicht sicher, ob Anna ihn verlassen hatte oder ob Zebras Heulen sie nur für einen Augenblick irregeführt hatte.
Linda stand vor Annas Tür und überlegte, ob sie sie eintreten sollte. Aber warum? Was glaubte sie eigentlich dort drinnen zu finden? Zebra bestimmt nicht. Und das war das einzige, was sie im Augenblick interessierte. Als sie dort vor der Tür stand, war es, als sehe sie plötzlich ein, was geschehen war, ohne diese Einsicht jedoch in Worte fassen zu können. Ihr brach der kalte Schweiß aus. Sie durchsuchte ihre Taschen, obwohl sie wußte, daß sie die Reserveschlüssel zurückgegeben hatte. Nur nicht die für den Wagen. Aber was soll ich mit denen, dachte sie. Wohin soll ich
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