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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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habe ich Menschen gesammelt, die bereit sind, zu Märtyrern zu werden, um eurer Freiheit willen, um die Leere zu füllen, von der ihr vielleicht nicht einmal ahnt, daß ihr sie tief in euch selbst tragt.
    Die Menschen am Strand entschwanden aus seinem Blickfeld. Er schaute aufs Wasser. Die Wellen waren kaum sichtbar, der schwache Wind kam aus Südost. Er ging in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Es würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis Torgeir mit Anna zurückkam. Er setzte sich wieder auf die Veranda. Weit draußen am Horizont glaubte er ein Schiff zu sehen. Die Zeit, die er noch hatte, bis Anna kam, wollte er dazu nutzen, ein schwieriges Problem in Angriff zu nehmen, von dem er nicht ganz voraussehen konnte, wie es sich gestalten würde. Die Anzahl christlicher Märtyrer war so gering, daß die Menschen kaum noch wußten, daß es sie überhaupt gab. Während des Zweiten Weltkriegs waren Priester in Konzentrationslagern für andere gestorben, es gab heilige Männer und heilige Frauen. Aber das Märtyrertum war den Christen aus den Händen geglitten, genau wie alles andere. Jetzt waren es die Moslems, die nicht zögerten, Menschen dazu aufzurufen, die äußerste Opferhandlung zu begehen. Auf Videos hatte er studiert, wie sie sich vorbereiteten, wie sie ihren Entschluß, als Märtyrer zu sterben, dokumentierten; er hatte genaugenommen das gelernt, was von den Anhängern der Religion, die er am stärksten haßte, zu lernen war, von dem größten Feind, dem er keinen Platz im kommenden Gottesreich zu bereiten gedachte. Hier lag eine Gefahr: Menschen in der christlichen Welt – oder der Welt, die einst christlich war und es wieder werden sollte -würden das dramatische Geschehen, das bald eintreten sollte, als das Werk von Moslems betrachten. In dieser Verwirrung lag etwas Gutes und etwas Schlechtes zugleich, das Gute war, daß ein frischer Haß auf die Moslems aufflammen würde, das Schlechte war, daß es lange dauern würde, bis die Menschen verstanden, daß die christlichen Märtyrer jetzt zurückgekehrt waren. Es war keine kleine Erweckungsbewegung, kein Maranata, sondern eine große Bekehrung, die stattfinden würde, bis Gottes Reich auf Erden wieder errichtet war.
    Er sah auf seine Hände. Manchmal, wenn er daran dachte, was ihn erwartete, begannen seine Hände zu zittern. Doch jetzt waren sie ruhig. Man wird mich für eine kurze Zeit als Narren betrachten, dachte er. Aber wenn die Märtyrer in endlosen Reihen dahinwandern, werden die Menschen verstehen, daß ich der Apostel der Vernunft bin, auf den man seit Tausenden von Jahren wartet. Ich hätte das hier ohne Jim Jones nicht geschafft, dachte er. Von ihm habe ich gelernt, meine Schwäche zu beherrschen, mich nicht zu fürchten, andere dazu anzuhalten, für die höheren Ziele zu sterben. Ich habe gelernt, daß Freiheit und Erlösung nur im Blut möglich sind, im Tod, es gibt keinen anderen Weg, und jemand muß immer vorangehen.
    Jemand muß immer vorangehen.
Das hatte Jesus getan. Aber Gott hatte ihn verlassen, weil er nicht weit genug gegangen war. Jesus hatte eine Schwäche, dachte er. Jesus fehlte die Stärke, über die ich verfüge. Es ist an uns, zu Ende zu bringen, was er unvollendet ließ. Gottes Reich auf Erden wird das Reich sein, in dem alles den Geboten untergeordnet ist. In der Bibel finden sich alle Regeln, die der Mensch braucht, um zu leben. Wir werden in Epochen heiliger Kriege eintreten, aber wir werden siegen, weil die christliche Welt eine Waffenmacht besitzt, die niemand besiegen kann.
    Er blinzelte zum Horizont. Das Schiff fuhr nach Westen. Der Wind war noch weiter abgeflaut. Er blickte auf die Uhr. Torgeir mußte bald zurückkommen. Die letzten Stunden dieses Tages und der folgenden Nacht würde er ausschließlich ihr widmen. Er hatte den Kampf um ihren Willen noch nicht gewonnen. Noch leistete sie Widerstand. Es war ein großer Schritt voran gewesen, daß sie akzeptierte, über ihr Verhältnis zu Vigsten, dem Mann, der Torgeirs Wirtstier in Kopenhagen war, die Unwahrheit zu sagen. Anna hatte nie auch nur eine einzige Klavierstunde genommen, aber es hatte den Anschein, daß sie die Polizisten, die mit ihr gesprochen hatten, überzeugt hatte. Es ärgerte ihn erneut, daß ihm in bezug auf die Zeit, die er brauchte, eine Fehleinschätzung unterlaufen war. Doch jetzt war es zu spät. Alles konnte nicht exakt so ablaufen, wie er es sich gedacht hatte. Das Wichtigste war, daß der große Plan nicht umgestoßen wurde.
    Die

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