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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Ländereien um Rannesholm.
Es war ein Schloß, aber wo lag es? Im Bücherregal hatte sie eine Karte von Schonen gesehen. Sie faltete sie auseinander. Rannesholm lag nur ungefähr zwanzig Kilometer nördlich von Skurup. Linda sah wieder auf die andere Karte. Obwohl es eine schlechte Kopie war, meinte sie, ein paar Pfeile und Notizen zu erkennen. Sie steckte die beiden Karten ein, machte das Licht aus und lauschte lange am Briefschlitz, bevor sie auf leisen Sohlen die Wohnung verließ.
    Es war vier Uhr am Nachmittag geworden, als sie auf das Freizeitgelände fuhr, das Rannesholm und zwei kleinere Seen umgab, die auf den dazugehörigen Ländereien lagen. Was mache ich hier eigentlich, fuhr es ihr durch den Kopf. Denke mir ein Abenteuer oder ein Märchen aus, damit die Zeit schneller vergeht? Sie schloß den Wagen ab und dachte, daß sie ihrer unsichtbaren Uniform überdrüssig war. Der Parkplatz war leer, bis auf Annas Wagen. Dann ging sie hinunter zum Wasser. Ein Schwanenpaar schwamm auf dem See, dessen Oberfläche vom Wind gekräuselt wurde. Von Westen zog Regen heran. Sie zog den Reißverschluß ihrer Jacke zu und schüttelte sich. Noch war Sommer, doch der Herbst näherte sich. Vom Ufer warf sie Steine ins Wasser. Es gab einen Zusammenhang zwischen Anna und Birgitta Medberg, dachte sie. Aber was sie gemeinsam haben, weiß ich nicht.
    Sie warf einen neuen Stein ins Wasser. Noch etwas verbindet die beiden, spann sie den Gedanken weiter. Beide sind verschwunden. Das Verschwinden der einen nimmt die Polizei vielleicht ernst, das der anderen nicht.
    Die Regenwolken waren schneller herangezogen, als sie erwartet hatte. Sie stellte sich unter eine Eiche am Rand des Parkplatzes. Die ersten Tropfen fielen. Die ganze Situation kam ihr auf einmal idiotisch vor. Sie wollte gerade durch den Regen zum Wagen laufen und davonfahren, als sie etwas zwischen den Büschen glitzern sah. Zuerst dachte sie, es sei eine Blechdose oder ein Plastikgegenstand. Sie bog einen der Büsche zur Seite und sah einen schwarzen Gummireifen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was sie vor sich hatte. Mit den Händen bog sie weitere Zweige zur Seite. Ihr Herz schlug schneller. Sie lief zum Auto und wählte eine Nummer auf ihrem Handy.
    Ausnahmsweise hatte ihr Vater daran gedacht, seins mitzunehmen und es sogar einzuschalten.
    »Wo bist du?« fragte er.
    Sie konnte hören, daß er für seine Verhältnisse ungewöhnlich sanft klang. Der Ausbruch am Morgen hatte das Seine getan.
    »Ich bin bei Schloß Rannesholm. Auf dem Parkplatz.«
    »Was tust du da?«
    »Ich finde, du solltest herkommen.«
    »Ich habe keine Zeit. Wir haben gleich eine Sitzung, auf der wir ein paar neue wahnsinnige Anordnungen der Reichspolizeibehörde besprechen wollen.«
    »Laß das sausen. Komm her. Ich habe was gefunden.«
    »Was?«
    »Birgitta Medbergs Vespa.«
    Sie hörte die schweren Atemzüge ihres Vaters. »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    »Und wie ist das zugegangen?«
    »Das erzähle ich dir, wenn du hergekommen bist.«
    Es schnarrte in Lindas Handy. Das Gespräch wurde unterbrochen. Aber sie rief ihn nicht wieder an. Sie wußte, daß er kommen würde.
    Der Regen nahm zu. Linda saß im Wagen und wartete. Im Autoradio sprach jemand über chinesische Teerosen. Linda dachte daran, wie oft sie schon auf ihren Vater gewartet hatte. Wie oft war er zu spät gekommen, wenn er sie am Flugplatz oder vom Zug in Malmö abholen sollte. Und wie oft war er überhaupt nicht gekommen und brachte Entschuldigungen vor, von denen eine schlechter war als die andere. Mehrmals hatte sie versucht, ihm zu erklären, daß es sie kränkte, wenn sie das Gefühl bekam, immer sei etwas anderes wichtiger als sie. Er sagte jedesmal, er verstehe, er wolle sich bessern, sie sollte nie wieder auf ihn warten müssen. Aber selten vergingen mehr als ein paar Monate, bis es wieder passierte.
    Ein einziges Mal hatte sie sich gerächt. Sie war damals einundzwanzig, es war eine wilde und romantische Zeit gewesen, in der sie sich vorstellte, Talent zur Schauspielerin zu haben; ein hoffnungsloser Traum, der bald verblaßte und ihr abhanden kam. Aber damals hatte sie eiskalt einen Plan gefaßt, hatte mit ihrem Vater abgemacht, Weihnachten in Ystad zu feiern. Nur sie und er. Nicht mit dem Großvater, der damals erst seit kurzem mit Gertrud zusammenlebte. Sie hatte am Telefon lange mit dem Vater verhandelt, daß sie als Weihnachtsessen Truthahn machen wollten und wer ihn zubereiten sollte, weil

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