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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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nachgehakt.
    »Die Zeiten sind nicht so, daß Frauen sich nach Belieben im Freien aufhalten können. Ich gehe nie ohne meine Hunde spazieren. In diesem Lande treiben sich so viele sonderbare Menschen herum. Letztes Jahr hatten wir einen Exhibitionisten hier. Soweit ich weiß, hat die Polizei ihn nie gefaßt. Aber ich wüßte natürlich gern Bescheid, was mit Birgitta Medberg ist.«
    Sie ließ die Hunde frei und schlug einen Weg ein, der durch eine Allee zum Schloß führte. Linda und ihr Vater standen da und sahen den Hunden und der Frau nach.
    »Sehr schön«, sagte er.
    »Reich und versnobt«, sagte Linda. »Kaum eine für dich.«
    »Sag das nicht«, entgegnete er. »Ich weiß, wie man sich benimmt. Sowohl Kristina als auch Mona haben mich erzogen.«
    Er blickte auf die Uhr und anschließend zum Himmel. »Fünfhundert Meter«, sagte er. »Wir gehen hin und sehen nach, ob wir etwas finden.«
    Er machte sich mit eiligen Schritten auf den Weg. Sie folgte ihm und mußte in Laufschritt übergehen, um nicht zu weit zurückzubleiben. Zwischen den Bäumen roch es stark nach nasser Erde. Der Pfad schlängelte sich zwischen Felsblöcken und den Wurzeln umgestürzter Bäume dahin. Eine Waldtaube flatterte von einem Baum auf. Kurz danach noch eine.
    Linda war es, die den Pfad entdeckte. Ihr Vater ging so schnell, daß er nicht merkte, wie der Weg sich teilte und ein Arm in eine andere Richtung führte. Sie rief ihn. Er hielt an und kam zurück und sah ein, daß sie recht hatte.
    »Ich habe mitgezählt«, sagte Linda. »Bis hierhin sind es ungefähr vierhundertfünfzig Meter.«
    »Anita Tademan hat fünfhundert gesagt.«
    »Wenn man nicht jeden Schritt zählt, sind fünfhundert Meter genauso richtig wie vierhundert oder sechshundert.«
    Er klang gereizt, als er antwortete. »Ich weiß schon, wie man Entfernungen berechnet.«
    Sie folgten dem neuen Pfad, der kaum zu erkennen war. Aber beide sahen die weichen Abdrücke von Stiefeln.
Ein
Fußpaar, dachte Linda. Ein einsamer Mensch.
    Der Pfad führte sie tief in einen völlig verwilderten und anscheinend nie gepflegten Wald. Dann endete er abrupt an einer Schlucht oder einer tiefen Felsspalte, die sich durch den Wald zog. Der Vater ging in die Hocke und bohrte mit einem Finger im Moos. Linda kam ihr Vater plötzlich wie ein übergewichtiger schwedischer Indianer vor, dessen Pfadfinderinstinkte noch intakt waren. Es fehlte nicht viel, und sie hätte über ihn gekichert.
    Sie stiegen vorsichtig in die Schlucht hinab. Linda blieb mit dem Fuß in ein paar Zweigen hängen und fiel hin. Als ein Zweig brach, hallte es wie ein Schuß durch den Wald. Vögel, die sie nicht sehen konnten, flogen auf und verschwanden.
    »Alles in Ordnung?«
    Linda klopfte sich den Schmutz ab.
    »Schon gut.«
    Er bog die Büsche zur Seite. Linda stand unmittelbar hinter ihm. Sie sah eine Hütte, fast wie im Märchen, ein Hexenhaus, das sich mit der Rückwand an einen Felsen lehnte. Es hatte eine Tür, ein kaputter Eimer lag halb von Erde bedeckt da. Beide horchten. Alles war still, nur vereinzelte Regentropfen fielen von den Blättern.
    »Warte hier«, sagte er und ging zu der Tür.
    Sie tat, was er sagte. Aber als er die Tür anfaßte, kam sie näher. Er öffnete und zuckte zusammen. Gleichzeitig glitt er aus und fiel nach hinten. Linda sprang zur Seite und landete so, daß sie durch die Tür sehen konnte. Zuerst wußte sie nicht, was es war, das sie vor sich sah.
    Dann wurde ihr klar, daß sie Birgitta Medberg gefunden hatten.
    Zumindest einen Teil von ihr.

Teil 2
DIE LEERE
    Was sie durch die Tür sah und was ihren Vater hatte zusammenzucken lassen, so daß er dabei ausglitt und hinfiel, hatte sie als Kind schon einmal gesehen. In ihrem Kopf flammte ein Bild auf. Es war in einem Buch gewesen, das Mona von ihrer Mutter geerbt hatte, der Großmutter, die Linda selbst nie gesehen hatte. Es war ein großes und schweres Buch mit biblischen Geschichten. Sie erinnerte sich an die Zeichnungen hinter den dünnen Seidenblättern. Eins dieser Bilder glich genau dem, das sie gerade in der Wirklichkeit vor sich hatte, mit einem Unterschied. In dem Buch hatte das Bild den bärtigen Kopf eines Mannes mit geschlossenen Augen gezeigt, auf einem funkelnden Tablett zur Schau gestellt, und mit einer Frau im Hintergrund, Salome mit ihren Schleiern. Das Bild hatte einen fast unerträglich starken Eindruck auf sie gemacht.
    Vielleicht verblaßte das starke Kindheitserlebnis erst jetzt, da das Bild aus dem Buch oder ihrer

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