Vor dem Frost
sie sich damals in Stockholm befand und er ein hoffnungsloser oder eher uninteressierter Koch war.
Sie wollten die drei Weihnachtstage zusammen verbringen, mit Weihnachtsbaum und Geschenken und langen Spaziergängen in einer Landschaft, die hoffentlich tief verschneit wäre. Am Morgen des 24. Dezember sollte er sie am Flugplatz in Sturup abholen. Aber am Tag davor flog sie mit ihrem damaligen Freund Timmy, der einen argentinischen Vater und eine finnische Mutter hatte, auf die Kanarischen Inseln. Erst am Morgen des ersten Weihnachtstags hatte sie aus einer Telefonzelle am Strand in Las Palmas angerufen und ihn gefragt, ob er jetzt begriffe, wie sie sich häufig fühlte. Er war außer sich gewesen, hauptsächlich vor Sorge, aber auch, weil er nicht verstehen oder akzeptieren konnte, was sie getan hatte. Plötzlich hatte sie da am Telefon selbst angefangen zu weinen. Ihr ganzer Plan, die Rache, fiel jetzt mit voller Wucht auf sie zurück. Was wurde besser dadurch, daß sie ihren Vater imitierte? Nichts. Es kam zur Versöhnung. Sie war zerknirscht und bat ihn um Verzeihung, und er beteuerte, sie nie wieder warten zu lassen. Dann war er mit untrüglicher Präzision zwei Stunden zu spät nach Kastrup gekommen, um sie und Timmy bei ihrer Rückkehr aus Las Palmas abzuholen.
Vor dem Wagenfenster blinkte es. Linda schaltete die Scheibenwischer an, um besser sehen zu können. Es war ihr Vater. Er parkte vor ihr, lief durch den Regen und setzte sich zu ihr in den Wagen. Er war ungeduldig und in Eile. »Nun erklär mal.«
Linda sagte es genau, wie es war. Sie merkte, daß seine Ungeduld sie nervös machte.
»Hast du das Tagebuch bei dir?« unterbrach er sie.
»Warum sollte ich es mitnehmen? Es stand genau das da, was ich gesagt habe.«
Er fragte nicht mehr. Sie erzählte weiter. Als sie fertig war, starrte er nachdenklich in den Regen hinaus. »Das klingt sonderbar«, sagte er.
»Du sagst oft, man sollte immer darauf warten, daß das Unerwartete geschieht.«
Er nickte. Dann sah er sie an. »Hast du Regenzeug?« »Nein.«
»Ich habe einen zweiten Regenmantel im Wagen.«
Er stieß die Wagentür auf und lief zu seinem eigenen Wagen zurück. Linda wunderte sich immer wieder darüber, daß ihr großer und massiger Vater so geschmeidig und schnell sein konnte. Sie folgte ihm hinaus in den Regen. Er stand am Kofferraum und zog sich Regenzeug an. Er gab ihr einen Regenmantel, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte. Dann suchte er eine Schirmmütze mit der Reklameaufschrift einer Kfz-Werkstatt hervor und drückte sie ihr auf den Kopf.
Er starrte zum Himmel. Das Wasser lief ihm übers Gesicht. »Das muß die Sintflut sein«, sagte er. »Ich kann mich nicht erinnern, daß es in meiner Kindheit so viel geregnet hätte.«
»Als ich klein war, hat es unheimlich wenig geregnet«, antwortete Linda.
Er trieb sie an. Sie ging vor ihm zu der Eiche und bog die Büsche auseinander. Er hatte sein Mobiltelefon in der Tasche seiner Regenjacke. Sie hörte, wie er im Präsidium anrief und zu murren begann, als Svartman nicht schnell genug an den Apparat kam. Sie verglichen die Kennzeichen. Er sagte die Nummer laut, Linda schaute auf die Vespa. Die Nummer stimmte. Er steckte das Handy wieder ein.
Im selben Augenblick ließ der Regen nach. Es kam so plötzlich, daß sie im ersten Augenblick nicht begriffen, was geschah. Es war wie bei einem Filmregen, bei dem nach einer Aufnahme der Wasserhahn zugedreht wurde.
»Die Sintflut macht Pause«, sagte er. »Du hast tatsächlich Birgitta Medbergs Vespa gefunden.«
Er sah sich um.
»Birgitta Medbergs Vespa«, wiederholte er. »Aber keine Birgitta Medberg.«
Linda zögerte. Dann zog sie die Fotokopie der Karte hervor, die sie zu Hause bei Birgitta Medberg gefunden hatte. Im selben Moment wurde ihr klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte.
Aber er hatte schon gesehen, daß sie etwas in der Hand hielt. »Was ist das?«
»Ein Stück von einer Karte dieser Gegend.«
»Wo hast du das gefunden?«
»Es lag hier auf dem Boden.«
Er nahm das trockene Papier und sah sie fragend an. Die Frage, die er jetzt stellt, kann ich nicht beantworten, dachte sie.
Aber es kam keine Frage, warum das Papier trocken war, wo der Boden doch patschnaß war. Er studierte die Karte, blickte zum See, zur Straße, zum Parkplatz und auf die Pfade, die in den Wald führten. »Hierhin ist sie also gefahren«, sagte er. »Aber das Gelände ist groß.«
Er betrachtete den Boden bei der Eiche und dem Gebüsch, in dem die
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