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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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von einem bestimmten Menschentyp,
die Neugierigen.
    Sie ging mit, sie war das letzte Glied in der langen Kette. Als ein Mann von der Spurensicherung, der vor ihr ging, ein Lampenstativ fallen ließ, hob sie es auf und nahm es mit.
    Die ganze Zeit war Anna da. Die Angst drang in Form von pochenden Stößen in Lindas Bewußtsein. Sie konnte immer noch nicht klar denken. Aber sie mußte sich an diese Kette halten. Am Ende würde jemand, vielleicht sogar ihr Vater, verstehen, daß es sich nicht allein um Birgitta Medberg handelte, sondern auch um ihre Freundin Anna.
    Sie verfolgte die Arbeit, während der Tag langsam dämmerte und in den Abend überging. Regenwolken kamen und gingen, die Erde war naß, die aufgestellten Lampen warfen Licht und Schatten in die Schlucht. Die Kriminaltechniker hatten vorsichtig einen Weg zur Hütte hinunter gebahnt. Linda war sorgfältig darauf bedacht, nicht im Weg zu stehen, und sie setzte ihren Fuß nicht auf, ohne daß er in die Fußspur eines anderen paßte. Manchmal trafen sich ihre und ihres Vaters Blicke, aber es war, als sähe er sie eigentlich gar nicht. Ann-Britt Höglund war die ganze Zeit an seiner Seite. Linda hatte sie dann und wann getroffen, seit sie wieder in Ystad war, hatte sie aber nie gemocht, sondern stets das Gefühl gehabt, ihr Vater müsse sich vor ihr in acht nehmen. Ann-Britt Höglund hatte sie heute kaum eines Grußes gewürdigt, und Linda ahnte, daß es nicht ganz einfach sein würde, mit ihr zusammenzuarbeiten. Wenn es überhaupt je dazu kam. Ann-Britt Höglund war Kriminalinspektorin, Linda Polizeianwärterin, die noch nicht einmal angefangen hatte zu arbeiten und die sich noch lange mit den Kleinkriminellen auf Straßen und Plätzen herumschlagen würde, bevor sie irgendeine Möglichkeit bekam, sich um eine Spezialisierung zu bewerben.
    Sie sah zu, wie die Arbeit voranging, wie sich Ordnung und Disziplin, Routine und Genauigkeit die ganze Zeit am Rande des Chaos zu bewegen schienen. Ab und zu wurde jemand lauter, vor allem der grantige Nyberg, der Verwünschungen und Flüche darüber ausstieß, daß die Leute nicht aufpaßten, wohin sie ihre Füße setzten. Drei Stunden nach dem Beginn der Arbeiten wurden der Kopf und die Hände, in Plastikbeutel verpackt, abtransportiert. Während die Leichenteile fortgebracht wurden, ruhte alle übrige Arbeit. Obwohl das Plastik dick war, ahnte Linda die Konturen von Birgitta Medbergs Gesicht und ihren Händen.
    Dann ging die Arbeit weiter. Nyberg und seine Leute krochen umher, jemand sägte Äste ab oder durchsuchte das Unterholz, andre stellten Scheinwerfer auf oder reparierten ins Stottern geratene Generatoren. Leute kamen und gingen, Telefone piepten, und mitten in dem Ganzen stand ihr Vater vollkommen regungslos, als sei er mit unsichtbaren Seilen gefesselt. Er tat Linda leid, seine Einsamkeit und der Anspruch, daß er jederzeit in der Lage sein sollte, auf den ununterbrochenen Strom von Fragen zu antworten und außerdem alle Entscheidungen zu treffen, die nötig waren, damit die Untersuchung des Tatorts nicht zum Erliegen kam. Ein unsicherer Seiltänzer, dachte Linda. So kommt er mir vor. Ein unsicherer Polizist auf dem Hochseil, der etwas gegen sein Übergewicht und gegen seine Einsamkeit tun sollte.
    Es war schon spät geworden, als er sie entdeckte. Er beendete ein Telefongespräch und wandte sich dann Nyberg zu, der ein paar Gegenstände unter eine der Lampen hielt, um die die Nachtinsekten schwärmten und sich verbrannten. Linda trat einen Schritt vor, um besser sehen zu können. Nyberg reichte ihrem Vater ein Paar Plastikhandschuhe, die dieser mit Mühe über seine großen Hände zog.
    »Was ist das?« fragte er.
    »Wenn du nicht völlig blind bist, müßtest du sehen, daß das eine Bibel ist.«
    Er schien die Gereiztheit des Mannes mit dem schütteren Haar, das ihm wirr um den Kopf stand, gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
    »Eine Bibel«, fuhr Nyberg fort. »Sie lag auf dem Fußboden, neben den Händen. Es gibt blutige Fingerabdrücke darauf. Aber es können ja die von jemand anders sein.«
    »Des Täters?«
    »Denkbar. Alles ist denkbar. Die ganze Hütte ist voller Blut. Es muß gräßlich gewesen sein. Wer auch immer das getan hat, muß von oben bis unten blutverschmiert sein.«
    »Keine Waffen, keine Schlagwerkzeuge?«
    »Nein, nichts. Aber diese Bibel, von den Blutflecken mal abgesehen, ist eigentümlich.«
    Linda trat noch einen Schritt näher, während ihr Vater seine Brille aufsetzte.
    »Die Offenbarung

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