Vor dem Frost
dachte Linda, da saßen wir. Anna, die sich immerzu Geld von mir lieh, weil sie nichts hatte, bat mich, auf ihre Tasche aufzupassen, während sie zur Toilette ging. Irgendwo im Tivoli spielte ein Orchester, der Trompeter blies ständig haarscharf an den richtigen Tönen vorbei.
An all das erinnerte sich Linda, als sie in Annas Badezimmer auf dem Fußboden lag. Die Fußbodenheizung wärmte ihr den Rücken. Die grüne Bank und die Tasche. Auch jetzt, nach all den Jahren, konnte sie nicht erklären, warum sie die Tasche geöffnet und Annas Portemonnaie herausgenommen hatte. Es waren zwei Hunderter darin. Ganz offen, nicht zusammengefaltet in einem Geheimfach. Sie hatte auf das Geld gestarrt und gespürt, wie Annas Falschheit sie mit gewaltiger Wucht traf. Dann hatte sie das Portemonnaie zurückgesteckt und sich entschieden, nichts zu sagen. Doch als Anna zurückkam und fragte, ob Linda etwas zu trinken kaufen könnte, war sie explodiert. Sie hatten dagestanden und sich angeschrien; was für ein Argument Anna vorgebracht hatte, wußte sie nicht mehr. Aber sie hatten sich getrennt und waren ihrer eigenen Wege gegangen. Auf der Rückfahrt nach Malmö hatte Anna an einer anderen Stelle im Schiff gesessen. Als sie am Bahnhof auf den Zug nach Ystad warteten, waren sie sich auch aus dem Weg gegangen. Es hatte lange gedauert, bis sie wieder miteinander sprachen. Sie hatten den Vorfall in Kopenhagen später nie mehr erwähnt, nur versucht, die zerbrochene Freundschaft wiederherzustellen. Und das war ihnen auch gelungen.
Linda setzte sich auf. Ein Lügengespinst, dachte sie. Ich bin überzeugt, daß Henrietta etwas verbarg, als ich bei ihr war. Und Anna lügt, das habe ich damals in Kopenhagen gelernt. Und auch später habe ich sie beim Lügen ertappt. Aber ich kenne sie so gut, daß ich auch sicher sein kann, wenn sie die Wahrheit sagt. Und was in Malmö geschehen ist, daß sie ihren Vater gesehen hat oder zumindest davon überzeugt ist, ihn gesehen zu haben, das ist keine Erfindung. Doch was steckt dahinter? Was hat sie mir nicht erzählt? Das Ungesagte kann die größte aller Lügen sein.
In ihrer Tasche klingelte das Handy. Sie wußte sofort, daß es ihr Vater war. Um sich dagegen zu wappnen, daß er immer noch verärgert war, stand sie vom Fußboden auf, bevor sie sich meldete.
Doch seine Stimme klang nur müde und abgespannt. Ihr Vater hatte viele verschiedene Stimmen, mehr als alle anderen Menschen, die sie kannte. »Wo bist du?«
»In Annas Wohnung.«
Er schwieg einen Augenblick. Sie konnte hören, daß er noch immer draußen im Wald war. Stimmen im Hintergrund wurden lauter und wieder leiser, schnarrende Funksprechgeräte, ein Hund, der bellte.
»Was tust du da?«
»Ich habe jetzt noch mehr Angst als vorher.«
Zu ihrer Verblüffung sagte er: »Ich verstehe. Deshalb rufe ich an. Ich komme.«
»Wohin?«
»In die Wohnung. Wo du bist. Ich muß das alles noch einmal im Detail hören. Natürlich gibt es keinen Grund dafür, daß du dir Sorgen machen müßtest. Aber ich nehme das, was du gesagt hast, jetzt ernst.«
»Warum sollte ich mir keine Sorgen machen. Es ist nicht natürlich, daß sie weg ist. Das habe ich von Anfang an gesagt. Wenn du nicht verstehst, daß ich mir Sorgen mache, brauchst du auch nicht zu sagen, daß du meine Angst verstehst. Außerdem war ihr Telefon besetzt. Aber sie ist nicht hier. Es war jemand anders hier. Da bin ich sicher.«
»Ich will alles noch einmal im einzelnen hören, wenn ich komme. Wie ist die Adresse?«
Linda nannte sie ihm. »Wie geht es?«
»Ich glaube, etwas Vergleichbares ist mir noch nie begegnet.«
»Habt ihr den Körper gefunden?«
»Nein. Wir haben nichts gefunden. Und am wenigsten eine Erklärung für das, was geschehen ist. Ich hupe, wenn ich da bin.«
Linda spülte den Mund mit Wasser aus. Un den Geschmack des Erbrochenen loszuwerden, nahm sie Annas Zahnbürste. Einer Eingebung folgend öffnete sie das Badezimmerschränkchen. Da entdeckte sie etwas, was sie erstaunte. Das zweite zurückgelassene Tagebuch, dachte sie.
Anna litt unter Ekzemen am Hals. Nur einige Wochen zuvor, als sie eines Abends mit Zebra zusammensaßen und mit Gedanken an eine Traumreise spielten, hatte Anna gesagt, das erste, was sie in ihre Tasche, ins Handgepäck stecken würde, sei die einzige Salbe, die ihr Ekzem in Schach hielt. Linda erinnerte sich genau an Annas Worte. Ich hole mir immer nur eine Tube, damit sie so frisch wie möglich ist. Jetzt lag sie zwischen Pillenschachteln und
Weitere Kostenlose Bücher