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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Zahnbürsten. Anna hatte eine Manie, was Zahnbürsten anging. Linda zählte neunzehn Stück, elf davon unbenutzt. Aber die Salbentube lag da. Ohne die wäre sie nicht verreist, dachte Linda. Nicht freiwillig. Weder die Salbe noch ihr Tagebuch hätte sie zurückgelassen. Sie schloß die Tür des Spiegelschränkchens und verließ das Bad.
    Aber was konnte eigentlich passiert sein? Nichts ließ darauf schließen, daß Anna unter Zwang weggebracht worden war. Auf jeden Fall nicht aus ihrer Wohnung. Natürlich konnte auf der Straße etwas geschehen sein. Sie konnte angefahren oder in ein Auto gezerrt worden sein.
    Linda stellte sich ans Fenster und wartete darauf, daß ihr Vater auftauchte. Sie merkte, daß sie müde war. Ihre unsichtbare Uniform spannte. Sie hatte plötzlich das Gefühl, getäuscht worden zu sein. Wie waren sie in ihrer Zeit an der Polizeihochschule auf das hier vorbereitet worden? Konnte man überhaupt einen angehenden Polizisten vorbereiten auf das, was ihn erwartete, wenn sich die Tür der Wirklichkeit öffnete? Einen kurzen Moment verspürte sie Lust, sich die Uniform herunterzureißen, bevor sie sie überhaupt angezogen hatte. Sie sollte den Entschluß, Polizistin zu werden, jetzt revidieren und so bald wie möglich gegen einen anderen Lebenstraum tauschen. Sie war nicht geeignet, sie taugte nicht zur Polizistin.
    Wer hatte ihr gesagt, daß sie jederzeit darauf gefaßt sein mußte, eine Tür zu öffnen und einen abgeschlagenen grauhaarigen Frauenkopf und gefaltete Hände zu erblicken. Jetzt, wo ihr Magen leer war, kam die Übelkeit nicht zurück.
    Die Hände waren gefaltet, dachte sie von neuem. Betende Hände, die abgeschlagen werden. Sie schüttelte den Kopf. Was war unmittelbar vorher geschehen? Der dramatische Augenblick, in dem zwei unsichtbare Hände mit einer ebenso unsichtbaren Axt zum Schlag ausholen. Was hatte Birgitta Medberg gesehen in diesen letzten Momenten ihres Lebens? Hatte sie in die Augen eines anderen Menschen geblickt, hatte sie begriffen, was geschehen würde? Oder war ihr vergönnt gewesen, nicht wahrzunehmen, was mit ihr geschah? Linda starrte eine im Wind schaukelnde Straßenlampe an. Es gab ein Drama, das sie nur ahnen konnte. Gefaltete Hände, ein Flehen um Gnade. Die von einem brutalen Hohenpriester mit einer Axt in der Hand nicht gewährt wurde. Birgitta Medberg wußte es, dachte Linda. Sie verstand, was geschehen sollte, und bat um Gnade.
    Das Scheinwerferlicht eines Wagens erleuchtete eine dunkle Hauswand. Ihr Vater bremste. Er stieg aus und schaute sich unschlüssig um, bevor er Linda entdeckte, die ihm winkte. Sie warf ihm den Schlüssel hinunter. Dann öffnete sie die Wohnungstür und hörte seine schweren Schritte im Treppenhaus. Er weckt das ganze Haus auf, dachte sie. Mein Vater dröhnt durchs Leben wie ein Zug wütender Infanteristen. Er war verschwitzt und erschöpft, seine Augen flackerten, seine Kleidung war durchnäßt.
    »Gibt es hier etwas zu essen?« fragte er, als er in den Flur trat und aus den Stiefeln stieg.
    »Gibt es.«
    »Und hast du ein Handtuch?«
    »Da ist das Badezimmer. Im unteren Regal liegen Handtücher.«
    Als er aus dem Bad kam, hatte er seine Sachen ausgezogen und setzte sich in Unterhemd und Unterhose an den Tisch. Das nasse Zeug hatte er über die Wärmerohre im Bad gehängt. Linda hatte den Tisch mit dem gedeckt, was sie in Annas Kühlschrank fand. Sie wußte, daß er in Ruhe essen wollte, schweigend. Als sie Kind war, war es fast eine Todsünde gewesen, am Frühstückstisch zu reden oder Lärm zu machen. Mona hatte es nicht ausgehalten, ihrem stummen Mann gegenüberzusitzen. Sie frühstückte, wenn er gegangen war. Aber Linda hatte dagesessen und sein Schweigen geteilt. Manchmal hatte er die Zeitung sinken lassen, meistens
Ystads Allehanda,
und ihr zugezwinkert. Das Schweigen am Morgen war heilig.
    Er biß in ein Butterbrot. Plötzlich war es, als sei ihm der Bissen im Hals steckengeblieben. »Ich hätte dich natürlich nicht mitnehmen sollen«, sagte er. »Das war unverantwortlich. Du hättest das da draußen in der Hütte nicht zu sehen brauchen.«
    »Wie kommt ihr weiter?«
    »Wir haben keine Spuren und keine Erklärung für das, was da geschehen ist.«
    »Aber der Rest des Körpers?«
    »Auch davon keine Spur. Die Hunde wittern nichts. Wir wissen, daß Birgitta Medberg in der Gegend Pfade kartiert hat. Es besteht kein Grund, etwas anderes anzunehmen, als daß sie aus reinem Zufall zu der Hütte gekommen ist. Aber wer war in der

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