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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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du versucht, bei mir anzurufen? Ich habe mit meinem Bruder gequatscht wegen eines Kredits, den ich ihm nicht geben will. Er wirft sein Geld nur zum Fenster hinaus. Ich habe viertausend auf der Bank. Das ist mein ganzes Vermögen. Das will er leihen, um sich damit in einen Lastzug einzukaufen, der mit Stückgut nach Bulgarien geht…«
    »Dein Bruder ist mir egal«, unterbrach Linda. »Anna ist verschwunden. Es ist noch nie vorgekommen, daß sie eine Verabredung vergessen hat.«
    »Irgendwann ist immer das erste Mal.«
    »Das sagt mein Vater auch. Aber es muß etwas passiert sein. Anna ist seit drei Tagen weg.«
    »Vielleicht ist sie in Lund?«
    »Nein. Eigentlich spielt es gar keine Rolle, wo sie ist. Es sieht ihr nicht ähnlich, weg zu sein. Hast du jemals erlebt, daß sie nicht gekommen ist oder angerufen hat oder zu Hause gewesen ist, wenn ihr euch verabredet hattet, miteinander zu reden oder euch zu treffen?«
    Zebra dachte nach.
    »Nein. Tatsächlich nicht.«
    »Da siehst du's.«
    »Warum bist du so aus dem Häuschen?«
    Linda war nahe daran, alles zu erzählen, was geschehen war, von dem Kopf und den abgeschlagenen Händen. Aber es wäre eine Todsünde gewesen, einem Außenstehenden etwas zu verraten. »Du hast bestimmt recht. Ich mache mir unnötig Sorgen.«
    »Komm her.«
    »Das schaff ich nicht.«
    »Ich glaube, du wirst allmählich wunderlich davon, daß du darauf wartest, endlich anzufangen zu arbeiten. Du kannst herkommen und ein Mysterium lösen.«
    »Was?«
    »Eine Tür, die zugeschnappt ist.«
    »Ich habe keine Zeit. Rede mit dem Hausmeister.«
    »Du machst zuviel Streß. Beruhige dich mal.«
    »Ich werd's versuchen. Hej.«
    Linda klingelte an der Tür in der Hoffnung, die dunklen Fenster bedeuteten nur, daß Anna schlief. Aber die Wohnung war leer, das Bett unberührt. Linda blieb stehen und betrachtete das Telefon. Der Hörer war aufgelegt, wie es sich gehörte, die Lampe des Anrufbeantworters war dunkel. Sie setzte sich hin und ging alles durch, was in den letzten Tagen geschehen war. Jedesmal, wenn der abgetrennte Kopf wieder in ihren Gedanken auftauchte, wurde ihr übel. Oder war vielleicht der Anblick der Hände schlimmer gewesen? Wer konnte einen Menschen seiner Hände berauben? Wenn man einem Menschen den Kopf abschlug, tötete man ihn. Aber die Hände? Sie fragte sich, ob es möglich war festzustellen, ob Birgitta Medbergs Hände abgeschlagen worden waren, als sie noch lebte, oder umgekehrt. Und wo war der Rest des Körpers? Ihre Übelkeit nahm plötzlich überhand. Sie schaffte es gerade noch auf die Toilette, bevor sie sich übergeben mußte. Nachher streckte sie sich auf dem Badezimmerfußboden aus. Unter der Badewanne war eine kleine gelbe Plastikente festgeklemmt. Sie erinnerte sich daran, wußte noch, wann Anna sie vor vielen Jahren bekommen hatte.
    Sie waren zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen. Wessen Idee es war, wußte sie nicht mehr. Aber sie hatten beschlossen, hinüber nach Kopenhagen zu fahren. Es war Frühling, Anna und Linda waren rastlos und unruhig in der Schule, und sie schlossen ständig neue Pakte, um sich gegenseitig zu schützen, wenn sie die Schule schwänzten. Mona hatte zugestimmt, daß Linda fuhr. Aber ihr Vater hatte ihr die Reise sofort verboten. Linda erinnerte sich noch immer daran, daß er Kopenhagen als eine heimtückische und bedrohliche Stadt ausgemalt hatte für zwei junge Mädchen, die viel zu wenig vom Leben wußten. Es war darauf hinausgelaufen, daß Linda und Anna trotz allem fuhren. Linda war klar, daß es reichlich Ärger geben würde, wenn sie nach Hause kam. Wie um sich schon im voraus zu rächen, stahl sie einen Hunderter aus seiner Brieftasche, bevor sie fuhren. Sie nahmen den Zug nach Malmö und dann das Tragflächenboot. In Lindas Erinnerung war es für sie und Anna der erste ernsthafte Besuch in der Welt der Erwachsenen.
    Es war ein Tag voller Kichern und Gackern gewesen, windig, aber sonnig, und der Frühling war im Anzug. Im Tivoli hatte Anna bei einer Tombola die Plastikente gewonnen.
    Zuerst war alles strahlend und hell gewesen. Freiheit, Abenteuer, unsichtbare Mauern stürzten ein, wo sie auch gingen. Dann verdunkelten sich die Bilder. Etwas war passiert, das erste schwere Torpedo gegen ihre Freundschaft. Damals ging es noch einmal gut. Aber als sie sich dann in denselben Jungen verliebten, war die Schlacht von Anfang an schon verloren. Der unsichtbare Riß in ihrer Freundschaft weitete sich und trieb sie auseinander. Eine grüne Bank,

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