Vor dem Frost
nicht.«
»Ich glaube dir.«
Margareta schüttelte irritiert den Kopf. »Nein, tust du nicht. Was wolltest du wissen?«
»Ich bin auf der Suche nach Anna. Sie ist meine Freundin. Ich frage mich, ob ihr etwas passiert ist. Sie meldet sich nicht, obwohl wir verabredet waren.«
»Und was, meinst du, soll ich dabei tun?«
»Wann hast du sie zuletzt gesehen? Kennst du sie?«
Die Antwort kam prompt und sehr bestimmt. »Ich mag sie nicht. Ich versuche, so wenig wie möglich mit ihr zu reden.«
Linda hatte das noch nie gehört, jemand, der Anna nicht mochte. Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf: Sie selbst hatte oft Streit mit Klassenkameraden gehabt, aber Anna nie.
»Warum?«
»Ich finde, sie ist eingebildet. Weil ich es auch bin, kann ich in der Regel Nachsicht üben mit anderen, die sich genauso schlecht benehmen wie ich. Aber bei ihr nicht. Sie ist auf eine Weise eingebildet, die ich nicht ertragen kann.«
Sie stand auf und wusch ihre Tasse aus. »Aber du magst es vielleicht gar nicht hören, wenn jemand schlecht über deine Freundin spricht?«
»Jeder hat doch ein Recht auf seine Meinung.«
Margareta setzte sich wieder an den Tisch. »Da ist noch eine Sache«, sagte sie. »Oder zwei. Eins ist, daß sie geizig ist. Das zweite, daß sie nicht ehrlich ist. Man kann sich nicht auf sie verlassen. Nicht auf das, was sie sagt, oder daß sie nicht an meine Milch geht oder an die Äpfel von jemand anders.«
»Das hört sich gar nicht nach Anna an.«
»Vielleicht ist die, die hier wohnt, eine andere Anna. Ich mag sie nicht. Sie mag mich nicht. Das gleicht sich aus. Wir haben uns arrangiert. Ich esse, wenn sie nicht ißt, und es gibt zwei Badezimmer, so daß wir nie zusammenzustoßen brauchen.«
Margaretas Handy klingelte. Sie meldete sich und verließ die Küche. Linda versuchte sich klarzumachen, was sie erfahren hatte. Sie sah mehr und mehr, daß die Anna, mit der sie jetzt den Kontakt wiederaufgenommen hatte, ganz und gar nicht mehr die war, mit der sie aufgewachsen war. Auch wenn Margareta oder Johanna einen seltsam widerspruchsvollen Eindruck machte, verstand Linda, daß das, was sie über Anna gesagt hatte, stimmte. Ich habe hier nichts mehr zu tun, dachte sie. Anna hält sich fern. Es gibt eine Erklärung dafür, genauso, wie es eine Erklärung dafür gibt, daß sie und Birgitta Medberg Kontakt miteinander hatten.
Sie stand auf, um zu gehen.
Margareta kam zurück. »Bist du sauer?«
»Warum sollte ich sauer sein?«
»Weil jemand schlecht über eine deiner Freundinnen spricht.«
»Ich bin nicht sauer.«
»Vielleicht macht es dir dann nichts aus, noch schlimmere Sachen zu hören?«
Sie setzten sich wieder. Lindas Spannung stieg.
»Weißt du, was sie studiert?« fragte Margareta.
»Medizin.«
»Das habe ich auch geglaubt. Das haben wir alle geglaubt. Aber dann hörte ich von jemandem, sie sei vom Medizinstudium ausgeschlossen worden. Es gingen Gerüchte um, sie habe gepfuscht. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Vielleicht hat sie aus anderen Gründen Schluß gemacht. Aber sie sagte nichts über das, was geschehen war. Sie tat so, als studierte sie Medizin. Aber das tut sie nicht mehr. Sie beschäftigt sich mit völlig anderen Dingen.«
»Womit?«
Margareta überlegte, bevor sie fortfuhr. »Sie macht etwas, was ich als die gute Seite an ihr betrachten kann. Die einzige gute Seite.«
»Und was ist das?«
»Sie betet.«
»Betet?«
»Du hast das Wort vielleicht schon mal gehört?« sagte Margareta. »›Betet‹. Was man in Kirchen tut.«
Linda riß plötzlich die Geduld. »Wofür hältst du dich eigentlich? Es ist doch wohl klar, daß ich weiß, was beten ist. Anna betet, sagst du? Aber wo? Wie? Wann? Warum?«
Margareta schien sich überhaupt nichts daraus zu machen, daß Linda wütend war. Linda wunderte sich mit einem Anflug von Neid über diese Selbstkontrolle, die sie selbst ganz und gar nicht besaß.
»Ich glaube, daß sie es ernst meint. Sie sucht etwas, das ist keine Lüge oder Wichtigtuerei. Ich kann sie verstehen. Ich habe keine Schwierigkeiten, mir vorzustellen, daß es Menschen gibt, die auf die gleiche Weise einen inneren Reichtum suchen wie ich einen äußeren.«
»Woher weißt du das alles, wenn du nicht mit ihr redest?«
Margareta beugte sich über den Tisch zu ihr hin. »Ich schnüffle herum und belausche sie heimlich. Ich bin der Mensch, der hinter allen Vorhängen steht und alles, was in Heimlichkeit geschieht, sieht und hört. Das schlimmste ist, daß ich nicht scherze. Es
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