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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wanderten durch den Raum. Anna war nicht da. Die Frau, die sie hereingeführt hatte, sah sie fragend an. Linda schüttelte den Kopf.
    »Es gibt noch einen Raum«, sagte die Frau.
    Linda folgte ihr. Die Holzwände waren weiß gestrichen, die Fenster rechtwinklig, ohne Eisenbeschläge. Auch hier saßen Menschen an den Wänden. Linda ließ den Blick durch den Raum schweifen. Keine Anna. Aber was ging hier im Haus eigentlich vor sich? Was stand in dem Brief, den sie heimlich gelesen hatte?
Ein Engel, in eine Wolke gekleidet?
    Was passiert hier? dachte sie.
    Gleichzeitig fragte sie sich immer noch, wie es kam, daß man sie entdeckt hatte. Gab es Wachen unter den Bäumen um das Haus?
    »Gehen wir hinaus«, sagte die Frau, die sie geleitete.
    Sie gingen auf den Hof und um das Haus herum zu einer steinernen Sitzgruppe im Schatten einer Buche. Linda war ernsthaft neugierig geworden. Auf irgendeine Weise hatten diese Menschen mit Anna zu tun.
    Sie beschloß, offen zu reden. »Ich suche eine Anna Westin. Sie ist verschwunden. In ihrem Briefkasten habe ich einen Brief gefunden, der mich hergeführt hat. Nun verstehe ich, daß hier keiner einen Namen hat. Aber für mich ist sie Anna Westin.«
    »Kannst du sagen, wie sie aussieht?«
    Das hier gefällt mir nicht, dachte Linda. Ihr Lächeln, diese Ruhe. Es ist nicht echt. Und es juckt mich am ganzen Körper vor Ekel. Wie vorhin, als ich diesem Schachspieler die Hand gegeben habe.
    Linda beschrieb Annas Aussehen.
    Die Frau lächelte weiter. »Ich glaube nicht, daß ich sie gesehen habe. Hast du den Brief bei dir?«
    »Ich habe ihn im Wagen.«
    »Und wo steht der Wagen?«
    »Ich habe ihn hinter der Kirche geparkt. Ein roter Golf. Der Brief liegt auf dem Beifahrersitz. Der Wagen ist nicht verschlossen. Dummerweise.«
    Es wurde still. Lindas Beklemmung nahm zu. »Was macht ihr hier?« fragte sie.
    »Das muß deine Freundin dir erzählt haben. Alle, die hier dabei sind, sollen andere zu unserem Tempel mitbringen.«
    »Ist das hier ein Tempel?«
    »Was sollte es sonst sein?«
    Nein, dachte Linda ironisch. Was sollte es sonst sein? Natürlich ist dies ein Tempel und kein ehemaliger Bauernhof, wo einst Häusler und Kleinbauern lebten und für ihr Auskommen schuften mußten.
    »Wie nennt ihr euch denn?«
    »Wir benutzen keine Namen. Unsere Gemeinschaft kommt von innen heraus, durch die Luft, die wir teilen und einatmen.«
    »Das hört sich seltsam an.«
    »Das Selbstverständliche ist immer das Rätselhafteste. Ein Riß in einem Klangkörper verändert die Akustik. Wenn der Boden ganz herausfällt, gibt es keine Musik mehr. Genauso ist es mit den Menschen. Man kann nicht leben, ohne daß es einen höheren Sinn gibt.«
    Linda verstand die Antworten nicht, die sie auf ihre Fragen erhielt. Es gefiel ihr nicht, nicht zu verstehen. Deshalb fragte sie nichts mehr. »Ich glaube, ich gehe jetzt«, sagte sie und stand auf.
    Sie ging schnell davon, ohne sich umzuschauen, und blieb erst stehen, als sie beim Auto angekommen war. Doch statt loszufahren, blieb sie im Wagen sitzen. Die Sonne schien durchs Laub und blendete sie. Sie wollte gerade starten, als sie einen Mann über den Kiesplatz kommen sah.
    Zuerst nahm sie nur seine Konturen wahr. Aber als er in den Schatten der hohen Bäume an der Friedhofsmauer trat, war ihr, als atmete sie eiskalte Luft ein. Sie kannte diesen Nacken. Aber nicht nur den. In dem kurzen Augenblick, in dem sie ihn sah, bevor er wieder ins Sonnenlicht eintauchte, hörte sie in ihrem Innern Annas Stimme. Eine klare und deutliche Stimme, die von einem Mann erzählte, den Anna durch ein Hotelfenster in Malmö gesehen hatte. Ich sitze an einem anderen Fenster, dachte Linda. Einem Wagenfenster. Und ich habe plötzlich das Gefühl, daß der Mann, den ich eben gesehen habe, Annas Vater ist. Es ist ein unsinniger Gedanke. Aber trotzdem denke ich ihn.
    Der Mann verschwand im gleißenden Sonnenlicht. Was erzählte ein Nacken eigentlich? Sie fragte sich, warum sie für einen Moment so überzeugt von etwas gewesen war, das zu wissen sie keinerlei Voraussetzungen hatte. Man erkennt keinen Menschen, den man nie gesehen hat. Was halfen schon Annas Fotos und das Bild, das sie von ihm gegeben hatte, als sie meinte, ihn vor dem Hotel in Malmö gesehen zu haben?
    Sie schüttelte den Gedanken ab und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Kirchenvorplatz war leer. Sie wartete eine Minute, ohne zu wissen, worauf. Dann fuhr sie zurück nach Lund. Es war Nachmittag geworden. Die Sonne schien immer

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