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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wußte es einmal, habe es aber fast wieder vergessen. Ich glaube, sie starb an der Schwindsucht. Die Eltern arm, der Vater war ein Krüppel, glaube ich. Sie waren Armenhäusler. Aber der Stein wurde von einem der Kaufleute bezahlt, die es damals hier in Lestarp gab. Es gingen natürlich Gerüchte um.«
    »Was für Gerüchte?«
    »Daß er das Mädchen geschwängert hätte. Und sein Gewissen damit beruhigen wollte, daß er ihr einen Stein setzte. Aber das kann man ja nicht mehr beweisen.«
    Linda begleitete ihn zu seinem Wagen. »Kennen Sie die Namen aller Toten? Alle Geschichten?«
    »Nein. Aber viele. Und vergessen Sie nicht, daß die Gräber ja neu belegt werden. Unter den kürzlich begrabenen Toten liegen andere, die alten Toten. Auch bei den Toten gibt es verschiedene Generationen, verschiedene Etagen im Garten der Toten. Aber die Stimmen flüstern.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Ich glaube nicht an Gespenster. Aber ich kann dennoch hören, wie es zwischen den Steinen flüstert. Ich finde, daß man wählen sollte, wer neben einem liegt. Denn tot ist man ja lange, um es mal so zu sagen. Wer will ein schnatterndes Weib neben sich liegen haben? Oder einen Alten, der nie still sein kann oder eine Geschichte gut erzählen kann. Man hört an den Stimmen, wie sie flüstern. Und ganz bestimmt ist es so, daß manche Tote mehr Spaß haben als andere.«
    Er schloß seine Wagentür auf und schirmte die Augen gegen das Sonnenlicht ab, als er sie ansah. »Wer sind Sie?«
    »Ich suche nach einer guten Freundin.«
    »Das ist was Feines. Nach einer guten Freundin suchen, wenn die Sonne scheint und es ein schöner Tag ist. Ich hoffe, Sie finden sie.«
    Er lächelte. »Aber, wie gesagt, an Gespenster glaube ich nicht.«
    Linda sah ihm nach, als er davonfuhr.
    Ich glaube an Gespenster, dachte sie. Aber genau deswegen, weil ich daran glaube, weiß ich, daß es keine gibt.
    Sie ließ den Wagen stehen und folgte dem Weg, der auf der Rückseite der Kirche und des Friedhofs entlangführte. Fast sofort entdeckte sie den Baum mit dem roten Zeichen. Sie bog in einen Weg ein, der einen Hang hinunterführte. Das Haus war alt und heruntergekommen. Ein Seitenflügel war aus rotgestrichenem Holz, der Rest des Hauses war aus Stein und weiß gekalkt. Das Dach war mit Schieferplatten in unterschiedlichen Farben ausgebessert. Linda blieb stehen und schaute sich um. Es war ganz still. Ein rostiger Traktor stand halb überwachsen unter ein paar Apfelbäumen. Die Haustür ging auf. Eine Frau in weißen Kleidern kam heraus und ging direkt auf Linda zu. Hatte man sie entdeckt? Sie verstand nicht, wie. Niemand war ihr begegnet, und jetzt stand sie verborgen zwischen den Bäumen.
    Aber die Frau kam direkt auf sie zu. Sie lächelte. Sie war in Lindas Alter. »Ich habe gesehen, daß du Hilfe brauchst«, sagte die Frau, als sie stehenblieb. Sie sprach eine Mischung aus Dänisch und Englisch.
    »Ich suche eine gute Freundin«, sagte Linda. »Anna Westin.«
    Die Frau lächelte. »Wir haben keine Namen hier. Komm mit ins Haus. Vielleicht findest du da deine Freundin.«
    Ihre sanfte Stimme verunsicherte Linda. Sie hatte das Gefühl, in eine Falle zu gehen, folgte der Frau aber trotzdem. Sie traten in ein kühlendes Dunkel ein. Sämtliche Innenwände waren herausgenommen worden, der Raum weiß gekalkt, kalt, auf dem Boden breite Dielen, keine Teppiche. Auch keine Möbel, aber an der einen Schmalseite, zwischen zwei Rundbogenfenstern mit schweren Eisenbeschlägen, hing ein Kreuz aus schwarzem Holz. An den Wänden, direkt auf dem Fußboden, saßen Menschen. Lindas Augen brauchten Zeit, um sich an das Dunkel zu gewöhnen. Es war eine der physischen Schwächen, die sie während der Ausbildung an der Polizeihochschule an sich entdeckt hatte. Die Umstellung ihrer Augen von Dunkel zu Hell dauerte lange. Sie hatte mit einem Arzt darüber gesprochen und ihre Augen untersuchen lassen. Aber es fehlte ihnen nichts. Sie benötigte nur ungewöhnlich lange Start- und Landebahnen, wenn sie aus dem Licht in die Dunkelheit ging oder umgekehrt.
    Die Menschen, die an den Wänden saßen, viele von ihnen mit um die Knie geschlungenen Armen, waren unterschiedlichen Alters. Bis auf die Tatsache, daß sie sich im selben Raum befanden und schweigend dasaßen, gab es nichts, was sie äußerlich einte. Ihre Kleidung war unterschiedlich. Ein Mann mit kurzgeschnittenem Haar trug einen dunklen Anzug und Schlips, neben ihm saß eine ältere Frau, die einfach gekleidet war. Lindas Blicke

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