Vor dem Frost
Kirchenvorplatz, warf einen Blick zum Kirchturm hinauf, wo ein paar Tauben flatterten, und schlug den Weg zum Haus ein. Es war leer und verlassen wie zuvor.
Ein Mann namens Torgeir Langaas hat das Haus gekauft,
dachte sie.
Er hat bar bezahlt.
Sie ging auf die Rückseite des Hauses und sah nachdenklich und geistesabwesend zugleich auf die steinerne Sitzgruppe. Da standen Johannisbeersträucher, schwarze und rote. Sie pflückte eine Handvoll Beeren und aß. Der Gedanke an Mona kehrte wieder. Warum hatte sie immer solche Angst gehabt? Sie spionierte nicht aus Neugier, ihre Triebkraft war Angst. Aber wovor? Daß ich mich als jemand anders zeigte als die, die ich war? Eine Neunjährige kann ein doppeltes Spiel spielen, kann Geheimnisse haben, aber sie kann kaum eine so ausgeklügelte Doppelnatur sein, daß eine Mutter es nötig hätte, zwischen Pullis und Unterwäsche herumzuschnüffeln, um zu verstehen, wer das eigene Kind ist.
Erst als Mona ihr Tagebuch gefunden und heimlich gelesen hatte, war es zu einem offenen Konflikt zwischen ihnen gekommen. Sie war damals dreizehn, ihr Tagebuch hatte sie hinter einer losen Holzverkleidung in einem Wandschrank versteckt. Anfangs war sie überzeugt, daß es dort sicher war. Aber eines Tages hatte sie gemerkt, daß die Mutter ihr Geheimfach entdeckt hatte. Das Tagebuch lag ein paar Zentimeter zu tief in der Aushöhlung. Linda war sich sofort sicher. Ihr Geheimfach war nicht mehr geheim. Mona machte sich dort zu schaffen, wenn ihre Tochter nicht zu Hause war. Sie erinnerte sich noch gut an ihre maßlose Empörung. Damals hatte sie ihre Mutter wirklich gehaßt. Sie streifte noch ein paar Johannisbeeren ab und dachte, daß sie später im Leben nie wieder einen so intensiven Haß empfunden hatte wie damals, als sie dreizehn war und den Vertrauensbruch entdeckte, den ihre Mutter begangen hatte.
Die Erinnerung hatte eine Fortsetzung und einen Schluß. Linda hatte beschlossen, ihre Mutter in die Falle gehen zu lassen, was bedeutete, daß sie auf frischer Tat ertappt wurde. Linda schrieb auf die erste leere Seite im Tagebuch, sie wisse, daß Mona das Tagebuch lese und in ihren Sachen herumspioniere. Sie legte das Tagebuch an seinen Platz und machte sich auf den Weg zur Schule. Doch auf halbem Weg bog sie ab, sie schwänzte, weil sie wußte, daß sie sich sowieso nicht konzentrieren konnte, und trieb sich den Tag über in den Läden der Stadt herum. Als sie nach Hause kam, brach ihr der kalte Schweiß aus. Aber ihre Mutter sah sie an, als sei nichts geschehen. Spät in der Nacht, als ihre Eltern schliefen, stand sie auf, holte das Tagebuch heraus und sah, daß ihre Mutter nach Lindas eigenen letzten Worten zwei Zeilen geschrieben hatte. Kein Wort der Entschuldigung, nichts darüber, daß sie sich schämte. Sondern nur ein Versprechen:
Ich werde nicht mehr lesen, ich verspreche es.
Linda riß ein paar letzte Johannisbeeren ab. Wir haben nie darüber gesprochen, dachte sie. Danach hat sie aufgehört zu spionieren, glaube ich. Aber sicher war ich nie. Vielleicht wurde sie geschickter im Verbergen ihres Eindringens, vielleicht machte es mir nichts mehr aus. Aber wir haben nie darüber gesprochen.
Als sie gerade den Garten verlassen wollte, fiel ihr Blick auf etwas, was hinter zwei hohen Kastanien lag. Sie ging näher heran, um zu sehen, was es war. Sie fuhr zusammen. Es sah aus wie ein Körper, der dort lag, ein Bündel von Kleidern, Arme und Beine ausgestreckt. Ihr Herz hämmerte. Sie versuchte, ihre Augen zu einem Fernglas zu machen, das den Gegenstand vergrößerte. Wie lange sie so stand, ohne sich zu rühren, wußte sie nicht. Schließlich war sie sicher. Es konnte kein Mensch sein. Sie trat näher. Es war eine Vogelscheuche, die hinter den hohen Bäumen lag. Auf einer kleinen Erhebung stand ein Kirschbaum. Linda vermutete, daß die Vogelscheuche dort gestanden hatte und umgefallen war, sich aber niemand die Mühe gemacht hatte, sie wieder aufzurichten. Es sah aus wie eine Leiche, dachte sie. Vergammelte Kleider, ein gekreuzigter Mensch, der nie begraben worden ist. Das Gerippe der Vogelscheuche war aus weißem Plastikmaterial zurechtgeschnitten. Die Kleider waren zusammengestückelt. Das Oberteil war ein Herrenjackett, das Unterteil ein Rock. Das Gesicht unter einem alten braunen Hut bestand aus einem grasgefüllten weißen Leinenbeutel, auf den Nase, Mund und Augen aufgemalt waren.
Linda ging in die Hocke und betrachtete den Rock. Er war rostbraun und weniger verschlissen als die
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