Vor dem Regen - Roman
nun Punkt sieben.
»Du hast meine Handynummer?«, versicherte sich Dusty.
Gerard nickte.
»Gut, dann bin ich weg«, sagte sie, stemmte vorsichtig die Tür auf und stieg aus.
Selbstbewusst stapfte sie die Straße entlang, durch die geöffnete Gartentür und bis zur Haustür. Es gab eine Gegensprechanlage, aber Dusty klopfte - eine nachdrücklichere Manifestation ihrer Autorität. Keine Reaktion. Sie klopfte lauter. Immer noch keine Reaktion. Sie drückte den Knopf der Gegensprechanlage.
»Ruby zu«, erklärte eine Frauenstimme.
»Hier ist die Polizei«, sagte Dusty ins Mikrofon.
»Oki, ich machen guten Preis. Freundpreis, oki? Du kommen Nacht, oki?«
»Nein, Sie verstehen nicht«, sagte Dusty. »Hier ist die Polizei.«
»Nach secks, oki?«
Ein Klick, und die Stimme war weg. Dusty drückte den Klingelknopf, wieder ohne Reaktion. Sie sah sich in ihrem Verdacht bestätigt - 242 Jabiru Crescent war ein Puff - und bestärkt: Sie musste sich umsehen. Ein Weg an der Seite des Hauses entlang führte in einen verwilderten, von einem gewaltigen, weit ausladenden Mangobaum beherrschten Garten. Dusty war auf einen Hund gefasst, eine Bestie - einen triefmäuligen Rottweiler oder knurrenden Dobermann. Mit einem Schwein hatte sie nicht gerechnet.
Es war keine Riesensau, nicht vergleichbar mit den in enge Koben gepferchten Kolossen bei der Royal Show, aber es war ganz klar ein Schwein, das mit hängendem Bauch in den überreifen Früchten auf dem Boden wühlte. Dusty fand zwar grundsätzlich, man solle jedem Tier, wie gemein es auch sein möge, seinen Respekt bezeugen, dennoch war sie etwas unsicher, was sie tun sollte, als das Borstentier nun mit dem Schnüffeln innehielt und zu ihr aufsah. Hätte sie einen Hund vor sich gehabt, sie hätte etwas Beruhigendes im Sinne von: »Alles in Ordnung, Kleiner«, gesagt, einer Katze wäre sie mit Schmeicheleien begegnet: »Ja was ist denn das für ein süßes Katzilein?«, aber wie zum Teufel sprach man ein Schwein an? Letztlich entschied sie sich für eine Mischung aus beidem: »Alles in Ordnung, du süßes Schweinilein.« Damit schien das Schwein beruhigt, und es wandte sich wieder den Mangos zu.
Dusty ging zur Hintertür. Sie war unversperrt. Sie öffnete sie und trat in die Küche. Hier war nichts Ungewöhnliches - auf der Arbeitsplatte stand ein Reiskocher, es gab ein paar billige Zeitschriften, und am Kühlschrank hing eine Preisliste von Domino’s Pizza. Auf dem Tisch lag ein
grüner DIN-A4-Kalender. Dusty nahm ihn und blätterte darin. Offenbar war es eine Art Geschäftsbuch: Für jeden Tag gab es eine Reihe von Ziffern zwischen eins und zehn. Wofür sie standen, konnte Dusty nur raten, denn die Schrift war thailändisch. Falls es eine Aufstellung der Mädchen und ihrer Tätigkeiten war, dann war es womöglich exakt das, was sie suchte: Der Nachweis, dass ein Mädchen an einem Tag aus der Reihe getanzt war und am nächsten von der Bildfläche verschwand. Sie zückte das Handy, änderte die Einstellungen auf Makro und fotografierte die Seite für Mittwoch, den 4. Oktober, den Tag, an dem Jimmy eine Leiche im Billabong gesehen haben wollte. Akribisch fotografierte sie auch die vorangehenden sechs Tage ab. Plötzlich dudelte »Alexis Sorbas«. Dusty ging ran.
»Da kommt jemand«, warnte Gerard.
»Okay, ich verzieh mich«, sagte sie und legte das Kalenderbuch zurück.
Als Dusty in den Garten lief, hörte sie jenseits der Hausecke Männerstimmen, die sich näherten und lauter wurden. »Durchsuch den Garten!«
In Dustys Jugend hatte es in Adelaide zwar noch keine Mangobäume gegeben, dafür aber alle möglichen sonstigen Arten, und Dusty als alter Wildfang war natürlich ständig darin herumgeklettert. Das Klettern in Bäumen ist, genau wie das Radfahren, eine Fähigkeit, die man nicht so schnell verlernt. Sie rannte an dem Schwein vorbei, hievte sich den Mangobaumstamm hinauf und zwängte sich so unauffällig und mangohaft wie möglich zwischen zwei Äste. Durch das Laub sah sie einen großen Mann mit Pistole. Das Schwein, das auf eine ganz besonders leckere Mango gestoßen war, grunzte laut. Der Mann reagierte sofort, hob die Waffe, näherte
sich dem Schwein, dem Baum, Dusty. Jetzt erkannte sie ihn auch. Ned Maleski war einmal ein exzellenter Football-Spieler gewesen, mittlerweile aber war er nur noch ein höchst mittelmäßiger Krimineller. Dusty hatte zwar noch nicht das Vergnügen gehabt, beruflich mit ihm zu verkeh - ren - Ned Maleskis Akte war umfangreich, enthielt
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