Vor dem Sturm (German Edition)
entwirren. Dann reißt er sie wieder hoch und gerät ins Wanken. Er ist high von dem Schmerzmittel. Er schwankt, als wäre er betrunken.
Skeetah setzt sich in Bewegung, um Daddys Zimmer zu verlassen, und erscheint im Licht der Flurbirne wie ein Schwimmer, der aus einem dunklen Badesee auftaucht: Manny, der vom Grund des schwarzen Lochs hochkommt, Licht aufsaugt, durch die Oberfläche bricht, geboren wird.
»Alles hat ein Recht zu leben«, sagt Skeetah. »Und sie und die Welpen sollen leben.«
»Skeet«, sagt Randall, und Skeet und China bleiben stehen. Alle drei treffen sich im Türrahmen. China hat die Ohren flach angelegt, den Schwanz aufgestellt. Sie ist so ruhig und angespannt wie Skeetah.
»Was?«, bellt Skeetah. Sie stehen auf beiden Seiten eines Zerrspiegels, der eine groß, der andere klein, beide muskulös und sehnig, angespannt, verletzte Knöchel, geballte Fäuste.
»Ich schlaf nicht mit ihr in einem Zimmer.« Randall streckt die gesunde Hand aus und packt zu.
»Stopp!« Daddys Stimme ist hart und laut. Dann fällt er in sich zusammen, als hätte es ihn alle Kraft gekostet, das rauszubringen. »Nein. Keine Schlägerei.«
Ich muss mich vorbeugen, um ihn zu verstehen. Er schwankt und drückt den gesunden Arm in die Matratze, um sich aufrecht zu halten.
»Er ist Kategorie fünf«, sagt Daddy. »Die Frau in den Nachrichten hat gesagt, Kategorie fünf.«
»Oh«, sage ich, aber es ist mehr ein Ausatmen als ein Wort. Daddy hat schon mal einen Sturm der Kategorie fünf erlebt, aber wir sind zu jung, um uns an den letzten Hurrikan der Kategorie fünf zu erinnern, der die Küste getroffen hat: Camille, vor fast vierzig Jahren. Aber Mama hat uns Geschichten davon erzählt.
»Sie bleibt im Zimmer, Skeet. Wenn ich sie nur einmal woanders erwische, schmeiß ich sie mitten im Sturm raus, klar? Randall, find dich damit ab.«
Daddys Arm knickt ein.
»Ich brauche Suppe, Esch.«
Skeetah verschränkt die Arme und schaut Randall mit schief gelegtem Kopf an wie ein Hund. Randall schüttelt seinen Kopf.
»Wir schlafen doch meist sowieso im Wohnzimmer, Randall«,sage ich flüsternd. Mir fällt ein, wie liebevoll er zu mir war, als er mich im Graben aufgelesen hat.
»Esch«, haucht Daddy. Er legt sich wieder auf die Seite, mit dem Gesicht zur Tür.
»Ja, Daddy«, sagt Randall. »Ich bring dir welche.« Er schiebt sich mit steifen Armen an uns vorbei und lässt mich und Skeetah auf dem Flur stehen. In der Küche geht zischend das Gas an.
»Alle Wesen verdienen eine Chance, Esch«, sagt Skeet, und er und China gehen durch die Tür in sein Zimmer. China streckt sich auf dem Boden aus und stellt die Ohren wieder auf. Ihr Schwanz klopft, und sie lächelt. Die Haut auf beiden Seiten ihrer verschorften Brust ist gespannt. Skeetah nimmt die Welpen einen nach dem anderen heraus, legt eine Hand um ihre runden Bäuche und setzt sie auf den Boden, wo ihre Schnauzen anfangen zu zucken und sie sich robbend auf China zubewegen. Sie schaut sie an, wie sie zuvor die Hühner angeschaut hat. Sie leckt. »Alle«, sagt Skeetah und schaut durch mich hindurch.
Der elfte Tag
KATRINA
A LS M AMA MIR ZUM ERSTEN M AL ERKLÄRT HAT , was ein Hurrikan ist, dachte ich, alle Tiere würden vor dem Sturm weglaufen, würden fliehen, ehe er kam, würden schon Tage vorher ihre Nasen in den Wind halten und Bescheid wissen. Vielleicht ihre rosigen warmen Zungen herausstrecken, um es zu schmecken, um ganz sicherzugehen. Die Rehe würden ihre Gefährten anschauen und davonspringen. Die Füchse würden mit sich selbst reden, die Schultern rollen, und weg wären sie. Vielleicht machen die größeren Tiere es auch so. Aber inzwischen glaube ich, dass andere Tiere wie Eichhörnchen und Kaninchen es überhaupt nicht so machen. Vielleicht fliehen die Kleinen nicht. Vielleicht halten die Kleinen auf ihren Ästen oder auf der nadelübersäten Erde inne, recken ihre Nasen in den Wind und spüren die herannahende Sturmluft, die für sie nach Salz riecht, nach Salz und reinen, brennenden Flammen, und bereiten sich vor wie wir. Die Eichhörnchen tragen Federn, Kiefernnadeln, abgeworfene Haarbüschel und Eicheln in die Eingeweide ihrer Bäume, polstern sie aus, damit sie sich tief im Innern verkriechen können, wo sie so sicher sind, dass sie das Krachen des Sturms um sich herum kaum hören. Die Kaninchen hocken im Profil da, Schenkel an Schenkel gestellt, riechen den Geruch des Sturms, der sie so plötzlich trifft wie ein lautes Geräusch, und dann wühlen sie
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