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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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getragen. Auf der Hintertreppe hört es sich an, als käme sie näher, aber ich sehe sie nicht mit Skeetah auf das Haus zukommen. Es gibt nur den Tag, heißer als der vorige, die Luft so dicht wie Wasser kurz vor dem Siedepunkt. Und plötzlich greift ihre Stimme. Es sind noch andere Hunde in der Nähe, im Wald um das Haus herum, auf der anderen Seite des Pit, weiter unten an der kurvigen, kieszerfressenen Straße, und die stimmen in ihr Bellen ein. Sie umringen sie wie ein Chor. Ihr Gebell kracht über den Himmel, kommt von überall gleichzeitig. Irgendwo da draußen, das weiß ich, ist Skeetah, mitten unter diesen Hunden, zieht sie an sich. Er ist die Hand an der Leine. Die ausgestreckte Hand. Er packt zu, und sie kommen, er lässt locker, und sie verteilen sich über die rote Erde, zwischen den Kiefern, den Bächen, den Eichen. Sie heulen. Sie hacken.
    China stößt einen großen Schrei aus, und ganz plötzlich sind sie still.
    ∗ ∗ ∗
    Randalls Spiel ist heute. Ich wische mit der Handfläche den Badezimmerspiegel ab, und das Glas bekommt an den Rändern Risse,die spiegelnde Oberfläche blättert ab wie Glitzerfolie. Ich öle meine Hände ein und streiche mit den Fingern durch mein Haar, das sich in ruhigere Ringel legt. Ich wähle zwei Haarklemmen aus, die Mama in einer Plastikschale unter dem Waschbecken hinterlassen hat, und schiebe sie mir hinter den Ohren ins Haar, sodass es mein Gesicht wie ein Kopfkissen umrahmt. Junior singt einen unverständlichen Text zu der Musik im Fernsehen; seine Stimme klingt heller als die eines Mädchens. Ich lächle, drehe den Kopf nach rechts und nach links. So sehe ich aus, denke ich. Dies ist die Lüge. Skeetah ist ein Geruch, ehe ich ihn erblicke: öliger Hundeschweiß, grüne Kiefernnadeln und ein ungewaschener Gestank nach Milch, die zu lange draußen in der warmen Küche gestanden hat. Er bleibt in der Tür stehen. Ich reibe mir Vaseline auf die Lippen und presse sie aufeinander, damit sie glänzen.
    »Was war das für ein Krach?«
    »Was meinst du?«
    »China, dieses wilde Gebell.«
    Draußen übt Randall Dribbeln. Ich sehe ihn durch das Fenster, wie er schmettert, den Ball gegen die Hauswand wirft, ihn auffängt, wenn er zurückprallt, und erneut wirft. Die Sonne steht senkrecht am Himmel und scheint voll auf die Lichtung, wo er trainiert. Er wärmt sich auf. Der Ball ist nicht voll aufgepumpt, und wenn er ihn berührt, klingt es mehr wie ein Klatschen.
    »Nichts.«
    Der Kragen von Skeetahs T-Shirt ist ausgeleiert wie ein Latz. Er schaut daran hinunter, schüttelt den Kopf, nimmt den Stoff mit beiden Händen und zieht. Das Shirt reißt. Das frisch gewachsene Haar auf seinem Kopf ist so stachelig wie Klettband.
    »Es klang aber nicht wie nichts.«
    Das T-Shirt ist schwarz, die nassen Stellen darauf sind also Schweißflecken. Es kann kein Blut sein. Das würde ich erkennen. Skeetah lässt das T-Shirt los, und es klatscht nass auf die Fliesen.
    Sein Geruch schwebt durch den Raum wie Rauch von brennendem, nassem Laub.
    »Sie hat’s vergessen.«
    »Was vergessen?«
    »Wer ich gestern war.«
    »Meinst du nicht eher, sie hat den Welpen vergessen?«
    Randall fängt den Ball jedes Mal, wenn er vom Korbbrett zurückspringt, und wirft ihn wieder hoch. Er lässt ihn nie den Boden berühren. Er bewahrt ihn davor, immer wieder dieses platte, platschende Geräusch zu machen. Seine Lippen sind an den Mundwinkeln nach unten gezogen, sie lächeln.
    »Nein. Sie hat mich vergessen.«
    Skeetah bückt sich, dreht den Wasserhahn in der Badewanne auf und zieht den Hebel für die Dusche hoch. Das Wasser sprüht kalt heraus, erzeugt einen feinen Nebel.
    »Wie lange willst du China angekettet lassen?«
    »So lang wie nötig.« Skeetah kickt seine Schuhe durch den Raum; erst den einen, dann den anderen. »So lange, wie es nötig ist.« Er pellt sich die Socken von den Füßen wie eine Bananenschale, und sie riechen scheußlich. Mein Magen zieht sich zusammen.
    Big Henry thront auf der Kühlerhaube seines Autos. Marquise sitzt neben ihm, so weit vorgebeugt, dass er nur aus Rücken, Armen und Beinen zu bestehen scheint und aussieht wie ein Krebs, während er auf dem blauen Metall einen Blunt baut. China steht vor Big Henry, ihre rosa Zunge hängt so gerade wie ein Ausrufezeichen aus ihrem Maul. Sie lächelt und schneidet anschließend eine Grimasse, immer wieder. Dadurch hat sie zwei Gesichter. Das Rosa der Erde auf ihrem Fell wird von einem braunen Schmutzrand überlagert, der die Umrisse ihrer

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