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Vor dem Sturm (German Edition)

Vor dem Sturm (German Edition)

Titel: Vor dem Sturm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesmyn Ward
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weint ihr? Hört auf zu weinen. Weinen ändert rein gar nichts
. Wir haben nie aufgehört zu weinen. Wir haben es nur im Stillen getan. Es versteckt. Ich lernte, so zu weinen, dass fast keine Tränen aus meinen Augen flossen, sondern ich das heiße salzige Wasser schluckte und spürte, wie es meine Kehle hinunterrann. Es war das Einzige, was wir tun konnten. Ich schlucke und blinzle durch die Tränen, und dann renne ich los.
    Am Anfang ist der Lauf durch den Wald mit Randall leichter; während ich und Skeet Hand in Hand gesprintet sind, joggen Randall und ich eher. Ich gerate am Anfang nicht aus der Puste, und ich zwinge mich, Fragen zu stellen, durch den anderen Schmerz hindurchzureden.
    »Wo ist Junior?«
    »Rennt hier irgendwo herum.«
    »Skeet?«
    »Der auch.«
    Im Wald sind keine geschäftigen Eichhörnchen, keine panischen Kaninchen, keine tapsenden Schildkröten. Ich weiß nicht, wo sie hin sind, aber hier sind sie nicht. Als ich zum Himmel hochschaue, rennend in das wackelnde Grau blicke, sehe ich große Vogelschwärme, die die Sonne verdunkeln würden, wenn sie durch die immer dichter werdenden Wolken zu sehen wäre. Sie fliegen alle weg, Richtung Norden. Die Schwärme drehen und wenden, tauchen ab und schwingen sich höher; sie gleichen Randalls Händen an einem Basketball, Skeets an einer Leine und meinen Beinen beim Wettlauf. Ich beobachte die Vögel, bis sie hinter den Baumkronen verschwinden, und dann sind nur noch wir da, und der Wald, die raschelnden Blätter unter unseren Füßen. Ranken streifen meine Arme, meinen Kopf; wir preschen vorwärts, bis wir auf der Lichtung vor dem Zaun, der Wiese, der Scheune und dem Haus herauskommen und ich auf die Knie sinke und Randall sich weit zurücklehnt, als wolle er sich auf den Rückenfallen lassen. Wir atmen beide schwer und sehen nass aus, wie Neugeborene.
    Die Kühe und die Reiher sind nicht da. Randall springt über den Zaun, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen, er springt hoch wie ein Reh, aber ich krieche unten durch. Mein Bauch fühlt sich an wie eine Schüssel, in der Wasser schwappt. Ich verschlucke inzwischen das meiste, und mein Gesicht ist hauptsächlich vom Schweiß nass. Wir gehen über die Wiese und versetzen dabei den Kuhfladen und den Pilzen Fußtritte. Das Gras kommt mir dichter vor, kräftiger. Diesmal ist kein blauer Lieferwagen zu sehen, kein weißer Mann und keine weiße Frau, kein Hund, der uns verfolgt. Die Fenster des Hauses und der Scheune sind mit dicken Sperrholzplatten vernagelt, aber als ich ein Ohr an die Platte vor dem Fenster lege, das Skeetah eingeschlagen hat, während Randall mich hochhebt, indem er einen Arm um die sanfte Rundung meines Bauches legt und mir den anderen wie einen Sitz unter den Po hält, höre ich die großen, einfältigen Kühe in der Scheune rumoren. Sie geben kleine muhende Klagelaute von sich und stoßen gegen die Wände, als suchten sie nach einem Fluchtweg. Ich wische mir über die Augen.
    »Das Haus«, sagt Randall.
    Randall lässt mich langsam herunter. Das Holz unter meinen Händen ist rau. Als ich die Bretter vor mir anschaue, sehe ich einen dunklen Fleck, der wie Farbe aussieht, einen weinroten Riss, wo Skeetah aus dem Fenster gefallen ist; es ist sein Blut. Ich frage mich, ob der alte humpelnde Mann wohl gelächelt hat, als er es sah, ob er sich gefreut hat über die Tatsache, dass der Junge sich verletzt hatte, oder ob der humpelnde Weiße das Fenster einfach nur kopfschüttelnd zugenagelt hat, voller Zorn, sodass der Hammer mit Wucht niederging und die Nägel so krumm und schief schlug wie Kommas.
    Am Haus sind die Bretter gleichmäßiger und fester angebracht.Es ist kein Flickwerk aus verschieden großen Brettern wie bei uns; es gibt keine Spalten, durch die man die Scheiben sehen kann. Das Sperrholz ist so glatt und fest geschlossen wie Augenlider.
    »Hier.« Randall versucht, einen Finger zwischen Brett und Wand zu schieben, aber nur sein Fingernagel passt in den Spalt. »Versuch du’s mal«, sagt er, aber meine Finger passen auch nicht dazwischen. Ich glaube, nicht mal Junior würde es schaffen. »Wir hätten ein Stemmeisen mitbringen sollen.«
    Ich schüttele den Kopf.
    »Verdammt!«, brüllt Randall. Er schlägt gegen das Holz, und es beult ein, bekommt in der Mitte eine Delle, und man hört, wie Holz und Glas splittern. Als Randall die Hand zurückzieht, ist seine Haut aufgerissen; er hat sich verletzt und hinterlässt eine Blutspur auf dem Brett. Er hält sich die Hand. Sein Gesicht

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