Vor der Flagge des Vaterlands
sie, ohne Veränderung der Richtung, et-
was verlangsamt.
Ich glaube, daß die ›Ebba‹ seit gestern um 200 Seemeilen
weiter nach Osten gelangt ist.
Meine Kabine hab’ ich unter dem Eindruck eines unkla-
ren Vorgefühls betreten. Mein Abendessen steht auf dem
Tisch, doch beunruhigt – ich weiß nicht wodurch – rühr’
ich es kaum an, sondern strecke mich nieder zum Schlaf,
der sich heute gar nicht einstellen will.
Dieser unbehagliche Zustand dauert 2 Stunden an. Die
Ruhe wird durch nichts gestört als durch das leise Erzit-
tern der Goélette, das Murmeln des Wassers, das an ihren
Seitenwänden hinstreicht, und gelegentlich durch leichte
Stöße, wenn sie auf dem friedlichen Meer vorn auf und ab
schwankt.
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Mein Gehirn aber, das von der Erinnerung an alles, was
sich in den letzten beiden Tagen ereignet hat, erfüllt ist,
kann sich nicht beruhigen. Morgen im Lauf des Nachmit-
tags sollen wir unser Ziel erreicht haben . . . morgen soll ich
meine Pflegerstellung bei Thomas Roch auf festem Land
wieder einnehmen, »wenn es nötig ist«, hat Graf d’Artigas
gesagt.
Wenn ich, als man mich unten im Laderaum eingesperrt
hatte, das erste Mal bemerkte, daß die Goélette sich über
den Pamplico-Sund hin in Bewegung setzte, so fühl’ ich in
diesem Augenblick – es mag ungefähr 10 Uhr abends sein –
daß sie eben angehalten hat.
Wozu dieser Aufenthalt? . . . Als mir Kapitän Spade be-
fahl, das Verdeck zu verlassen, hatten wir kein Land in Sicht.
In dieser Richtung verzeichnen die Karten nur die Bermu-
das-Inseln, und als es finster wurde, hätten wir mindestens
50 bis 60 Seemeilen weiter sein müssen, wenn die Wachen
sie hätten signalisieren sollen können.
Übrigens ist nicht nur die Fahrt der ›Ebba‹ unterbrochen,
sie liegt vielmehr fast vollständig still. Kaum macht sich ein
leises und sehr gleichmäßiges Wiegen von einem Bord zum
andern bemerkbar. Die Dünung muß sehr schwach sein,
und kein Windhauch streicht über das weite Meer.
Meine Gedanken schweifen nun nach dem Handels-
schiff hinüber, daß anderthalb Meilen von uns lag, als ich in
meine Kabine zurückkehrte. Wenn die Goélette weiter dar-
auf zugesteuert ist, muß sie es nun erreicht haben, und jetzt,
wo sie auf einer Stelle hält, können die beiden Fahrzeuge
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nicht mehr als 1 oder 2 Kabellängen voneinander entfernt
liegen. Der Dreimaster, den schon mit Sonnenuntergang die
Windstille überraschte, kann nicht nach Westen abgetrie-
ben sein. Nein, er ist noch an derselben Stelle, und wenn
die Nacht klar wäre, würde ich ihn durch die Lichtluke se-
hen können.
Dabei fällt mir ein, daß sich hier vielleicht eine Gele-
genheit böte, die ich auszunützen vermöchte. Warum sollte
ich nicht versuchen zu fliehen, da mir jede Hoffnung auf
Wiedererlangung meiner Freiheit abgeschnitten scheint?
Schwimmen kann ich freilich nicht; doch wenn ich mich
mit einer der Rettungsbojen der Goélette ins Meer stürze,
sollte es mir unmöglich sein, den Dreimaster zu erreichen,
wenn es nur gelingt, die Wachsamkeit der Matrosen auf
dem Vorderdeck zu täuschen?
Zuerst würde es also darum gehen, meine Kabine zu ver-
lassen, die Treppenleiter hinaufzuklimmen. Ich höre kein
Geräusch im Schlafraum der Mannschaft von der ›Ebba‹ . . .
sicher schlafen die Leute jetzt . . . also, frisch gewagt!
Im Begriff, die Tür zu öffnen, finde ich aber, daß sie von
außen verriegelt ist, und das war ja wohl zu erwarten.
Ich muß also meinen Plan aufgeben, der übrigens eben-
soviel Aussichten für sich wie gegen sich hatte.
Das beste wär’s, zu schlafen, denn wenn auch nicht kör-
perlich, bin ich doch geistig sehr abgespannt. Fortwährend
von Anfechtungen, von einander widersprechenden Ge-
danken heimgesucht wär’ es schön, im Schlaf alles verges-
sen zu können . . .
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Ich muß wohl eingeschlummert sein, denn ich erwache
eben durch ein Geräusch . . . ein ungewöhnliches Geräusch,
das ich an Bord der Goélette bisher noch nicht vernommen
habe.
Schon begann der Tag die Glasscheibe meiner nach Os-
ten zu liegenden Lichtluke etwas zu erhellen. Ich sehe nach
der Uhr; sie zeigt auf halb 5.
Meine erste Sorge ist, mich zu fragen, ob die ›Ebba‹ ihre
Fahrt wieder aufgenommen hat.
Nein jedenfalls nicht . . . weder mit ihren Segeln noch mit
ihrem Motor. Dennoch machen sich gewisse Stöße bemerk-
bar, worüber ich mich nicht täuschen kann. Obendrein
scheint das
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