Vorgetäuscht: Liebesroman (German Edition)
Szene – Cafés, Buchläden, Galerien, Verabredungen, was auch immer –, ich wollte mich auskennen, und ohne Angst in die U-Bahn steigen … all die Jahre in Neuengland habe ich mich als New Yorkerin ausgegeben. Aber das war ich nie. Das habe ich nur vorgetäuscht. Ich war einfach nur ein behütetes Mädchen aus einem Vorort auf Long Island. Im letzten Jahr habe ich wirklich das Leben gelebt, von dem ich immer geträumt habe, und weißt du was? Ich habe es nur vorgetäuscht. Ich habe versucht, so viel zu übertünchen: meinen Körper, meine Sexualität, meine Unsicherheit, meine Angst …
Jetzt nicht mehr. Im Herzen bin ich immer noch einen Mädchen aus der Vorstadt, aber ich bin kein behütetes, ängstliches Mädchen mehr. Merkwürdig, ich bin weder eine New Yorkerin noch eine Neuengländerin. Oder vielleicht bin ich beides, ich weiß es nicht. Aber ich brauche die Straßen der Stadt, den Zugund den Lärm nicht mehr. Auch nicht die Menschenansammlungen, die Wolkenkratzer,
Junior’s
oder
Heartland Brewery
. Ich muss nichts mehr übertünchen.«
Devin holte Luft. »Hört sich so an, als hättest du dich entschieden.«
»Und du, Dev?«
»Was meinst du mit:
und du?
«
»Bist du nicht auch bereit für mehr? Du hast mir einmal gesagt, dass ich mehr bin als mein Körper. Du auch. Du kannst so viel mehr erreichen. Willst du nicht mehr … oder weniger?«
Seine Augenfarbe wechselte von Siena zu einem dunklen Grau.
»Warum gehst du mit deinen Klientinnen nicht den ganzen Weg?«, fragte ich.
Die Frage hing in der Luft. Er sah weg mit dunklen Augen und suchte nach Worten. Dann sah er mich ernst an.
Doch bevor er mir antworten konnte, klingelte sein Handy. Als er die Nummer sah, nahm er den Anruf entgegen und sprach schnell. Bevor er auflegte, sagte er: »Ich bin sofort da.« Er sah beunruhigt aus.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ich muss gehen.« Er stand auf, nahm seinen Mantel und ging zur Tür. Ich sprang auf und folgte ihm.
»Was ist los?«
Er drehte sich zu mir um. »Mein Vater.«
Dann rannte er aus der Tür, ohne sich von mir zu verabschieden.
Kapitel dreiundzwanzig
Ich hörte eine ganze Woche nichts von Devin, und er beantwortete meine Anrufe nicht. Er war nicht in seiner Wohnung, als ich dort aufkreuzte und mich mit dem Portier, der mich inzwischen gut kannte, unterhielt. Als ich endlich Devins Geschäftspartner Christian erreichte, erzählte er mir, dass Devin alle Termine mit seinen Klientinnen auf unbestimmte Zeit abgesagt habe.
»Warum?«, fragte ich. »Was ist geschehen?«
»Ich kann das nicht mit Ihnen besprechen. Sie sind eine Klientin.«
»Vergangenheit, Christian. Unser Vertrag ist schon längst ausgelaufen. Jetzt sind wir Freunde.«
»Was ich nie verstanden habe. Devin hat sich nie auf eine seiner Klientinnen eingelassen. Und außerdem, wenn Sie so gute Freunde sind, warum hat er es Ihnen dann nicht selbst gesagt?«
Gute Frage.
»Es kommt mir so vor, als ob er nicht will, dass Sie es wissen«, sagte er.
Ich war genervt.
»Bitte, Christian«, drang ich in ihn, »ich weiß, dass Sie nur vorsichtig sind und meinen Motiven nicht vertrauen, und dazu haben Sie jedes Recht, wenn man die Art Ihres Geschäftes bedenkt. Aber Sie wissen auch, dass ich nie eine Ihrer typischen Klientinnen war.«
Schweigen.
»Hören Sie, er ist doch Ihr Freund, oder nicht?«
Christian machte eine Pause. »Ja, sicher.«
»Na ja, und er ist auch mein Freund«, ließ ich immer nochnicht locker. »Manchmal bitten Freunde einen nicht um Unterstützung, auch wenn sie sie brauchen würden. Ich glaube, dass Devin mich braucht. Was meinen Sie?«
Auch wenn sein Schweigen nur ein oder zwei Sekunden andauerte, sank mir das Herz. Gerade als ich auflegen wollte, sagte Christian: »Sein Vater ist gestorben. Das Begräbnis ist morgen. Aber ich weiß nicht, wo.«
»Vielen Dank, Christian.« Ich hatte einen Kloß im Hals und hängte auf.
Obwohl ich erleichtert war, dass ich es nun wusste, war mir übel; dabei hatte ich es mir die ganze Zeit schon gedacht.
Kapitel vierundzwanzig
Wenn wir zusammen waren, erwähnte Devin seine Familie nur sehr selten. Was ich über seinen Vater wusste, hatte ich aus seinen Texten:
Er war Bauarbeiter, musste den Job aber nach einem Unfall an den Nagel hängen. Nach der Verletzung hatte er sein Leben lang chronische Rückenschmerzen und bekam Schadensersatz. Er wurde Buchhalter und führte mehreren Baufirmen die Bücher. Meine Mutter arbeitete als Schulsekretärin. Dad war ein barscher,
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