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Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
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hergerichtet worden.
    Ich hatte keine Ahnung, welches Zimmer ursprünglich Phyllis Wyvern zugedacht war, aber der gesunde Menschenverstand ließ mich vermuten, dass sie im größten Zimmer schlief – im sogenannten Blauen Zimmer, das sonst immer von Tante Felicity bei deren Pflichtbesuchen mit Beschlag belegt wurde.
    Der helle Lichtstreifen unter der Tür verriet mir, dass ich richtig vermutet hatte.
    Hinter der Tür waren ein sonderbares Surren und ein leises Klatschen zu vernehmen.
    Flapp! Flapp! Flapp! Flapp! Flapp!
    Was in aller Welt konnte das sein?
    Ich klopfte mit dem Fingernagel an die Tür.
    Keine Reaktion.
    Flapp! Flapp! Flapp! Flapp! Flapp!
    Vielleicht hatte sie mich nicht gehört.
    Ich klopfte noch einmal, diesmal mit den Knöcheln.
    »Miss Wyvern«, raunte ich. »Sind Sie wach? Ich bin’s, Flavia.«
    Wieder keine Antwort.
    Ich kniete mich hin und wollte durchs Schlüsselloch spähen, aber etwas versperrte mir die Sicht. Höchstwahrscheinlich der Schlüssel.
    Als ich wieder aufstand, rutschte ich und fiel gegen die Tür, die lautlos und auf geradezu unheimliche Weise aufschwang.
    An der gegenüberliegenden Wand des Zimmers stand das große Himmelbett, frisch gemacht und mit zurückgeschlagenen Decken, aber niemand lag darin.
    Links von der Tür surrte auf einem Stahlrohrgestell ein Filmprojektor vor sich hin. Der starre weiße Lichtstrahl war auf eine Leinwand gerichtet, die auf der gegenüberliegenden Zimmerseite an einem Stativ hing.
    Obwohl der Film schon ganz durchgelaufen war, flatterte das lose Ende wie eine schwarze Bullenpeitsche rundherum: Flapp! Flapp! Flapp! Flapp! Flapp!
    Phyllis Wyvern hockte zusammengesunken in einem Fauteuil, den starren Blick aufmerksam auf die grellweiße, leere Leinwand geheftet.
    Um ihren Hals war wie ein Halsband des Todes ein Stück Filmstreifen geschlungen und zu einer ordentlichen schwarzen Fliege gezurrt.
    Sie war natürlich tot.

12
    I n meinem elfjährigen Leben habe ich schon etliche Leichen gesehen. Jede war auf ihre eigene Art interessant gewesen, und diese hier bildete keine Ausnahme.
    Die anderen Toten waren allesamt Männer gewesen; Phyllis Wyvern war meine erste weibliche Leiche. Daher verdiente sie, wie ich fand, besondere Aufmerksamkeit.
    Mir fiel sofort auf, wie sich die erleuchtete Leinwand in ihren Augen spiegelte und einen Moment lang den Anschein erweckte, sie sei noch am Leben. Doch obwohl ihre Augen sich noch nicht trübten – sie kann noch nicht lange tot sei, dachte ich sofort –, wurden ihre Züge schon verschwommen, als würde ihr Gesicht sandgestrahlt, um es hinterher neu zu streichen.
    Die Haut nahm bereits die Farbe von Knete an, und auf der Innenseite ihrer Lippen, die leicht geöffnet waren und die perfekten Zähne teilweise entblößten, zeigte sich schon diese typische blaugraue, bleierne Verfärbung. In den Mundwinkeln hatten sich ein paar Tropfen schaumigen Speichels gesammelt.
    Phyllis Wyvern trug nicht mehr ihr Julia-Kostüm, sondern war in eine kunstvoll bestickte osteuropäische Bauernbluse gekleidet, mitsamt Schultertuch und bauschigem Rock.
    »Miss Wyvern!«, flüsterte ich wider besseres Wissen.
    Ich wusste ja, dass es keinen Zweck hatte, aber man hat immer das Gefühl, dass die Toten einem womöglich nur einen Streich spielen und jeden Augenblick aufspringen und »Buuh!« schreien, damit man vor Schreck fast aus der Haut fährt, und darauf waren meine Nerven, auch wenn sie recht belastbar waren, wirklich nicht vorbereitet.
    Aus dem, was ich gehört und gelesen hatte, wusste ich, dass bei plötzlichen Todesfällen sofort entweder die Polizei oder ein Arzt verständigt werden muss. Cynthia Richardson hatte berichtet, dass das Telefon nicht funktionierte, weshalb die Polizei zumindest vorerst aus dem Rennen war, und Dr. Darby schlummerte tief und fest. Ich hatte ihn auf dem Weg durch die Halle gesehen.
    Für Phyllis Wyvern kam ohnehin jede ärztliche Hilfe zu spät. Darum fiel mir die Entscheidung nicht schwer: Ich würde Dogger Bescheid sagen.
    Ich schloss leise die Tür hinter mir und schlich mich abermals durchs Haus – die Treppe hinunter und quer durch die Halle –, bis zu Doggers Zimmer am oberen Ende der Küchentreppe.
    Ich klopfte dreimal kurz, machte eine Pause … noch zweimal … wieder eine Pause … und dann zweimal mit Nachdruck.
    Ich war kaum fertig damit, da flog die Tür auch schon auf geölten Scharnieren auf, und Dogger stand im Morgenmantel vor mir.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
    »Soweit

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