Vorhang auf für eine Leiche
Fingerabdrücke auf dem Leder zu hinterlassen, zog ich ihr, ganz langsam und vorsichtig, einen Stiefel aus … wobei mir auffiel, dass der dicke weiße Strumpf über dem Spann zusammengeschoben war.
Wie ich vermutet hatte, war ihr der Stiefel erst nach dem Tod über den Fuß gestülpt worden.
Mit größter Sorgfalt rollte ich den knielangen Strumpf herunter und zog ihn ebenfalls aus. Der Fuß war aufgedunsen, dunkel verfärbt und wies mehrere Flecken auf, wo sich unter der Haut das Blut sammelte. Die lackierten Zehennägel bildeten dazu einen grausigen Kontrast.
Ich zog ihr den Strumpf wieder an. Er ließ sich ganz leicht über die kalte Haut streifen.
Ihr den Stiefel wieder anzuziehen gestaltete sich viel schwieriger. Die steifen Zehen weigerten sich beharrlich, bis in die Stiefelspitze zu rutschen. War die Leichenstarre schon eingetreten?
Ich zog den Schuh wieder aus und schob die Finger in die Öffnung. Jemand hatte etwas hineingesteckt … es fühlte sich an wie Papier.
Warum sollte eine Frau, die so reich und berühmt wie Phyllis Wyvern war, sich viel zu große Schuhe kaufen, die sie dann mit Papier ausstopfen musste?
Das kam mir sehr unwahrscheinlich vor. Ich fischte das Knäuel heraus und strich es glatt.
Es war ein Blatt Briefpapier mit dem Aufdruck: Cora Hotel, Upper Woburn Place, London, WC1 .
Quer über das Blatt war mit roter Tinte etwas gekritzelt, das ich kaum entziffern konnte. Es las sich wie:
Muss ich das D sagen?
Was für eine Sauklaue! War das Phyllis’ Schrift?
Das Blatt war diagonal durchgerissen, ein Buchstabe so abgeschabt, dass ich nur raten konnte. – War das ein D für Desmond? Ein D für Duncan? Ein V für Val? Oder eher ein B für Bun?
Ich hatte keine Zeit, Vermutungen anzustellen oder meinen Triumph auszukosten, dass ich etwas gefunden hatte, das der Polizei entgangen war. Ich steckte das Blatt in meine Strickjacke, um es später näher zu betrachten.
Dann widmete ich mich wieder dem Stiefel, aber wegen der Schwellungen war es, als wollte man einen Elefantenfuß in einen Ballettschuh quetschen.
Ich dachte wieder an Flo oder Maeve oder wie sie auch heißen mochte und rannte nach nebenan.
Volltreffer! Die Schauspielerin hatte die noch halb volle Schüssel mit Obststückchen auf dem Nachttisch stehen lassen. Ich schnappte mir den Dessertlöffel und kehrte zu Miss Wyvern zurück.
Mithilfe dieses improvisierten Schuhlöffels gelang es mir, ihr den Stiefel wieder anzuziehen.
Eine innere Stimme sagte mir, dass ich auch in dem anderen Stiefel nachsehen sollte. Er war im Nu ausgezogen. Fand sich hier vielleicht die andere Hälfte der Botschaft?
Leider nicht. Zu meiner Enttäuschung war der zweite Stiefel leer, weshalb ich ihn rasch wieder über den Fuß schob.
So viel zu den unteren Extremitäten.
Der nächste Schritt bestand darin, die Tote ausgiebig abzuschnüffeln. Meiner Erfahrung nach konnte bei so ziemlich jedem Tod ein Gift die Ursache sein, und ich wollte kein Risiko eingehen.
Ich schnupperte erst an ihren Lippen (mir fiel auf, dass die obere mit hellrotem Lippenstift größer gemalt war, als sie eigentlich war; vielleicht, um den zarten Damenbart zu kaschieren, den man nur aus allernächster Nähe sah), dann an ihren Ohren, an der Nase, am Ausschnitt, an den Händen und, so gut es ging, ohne die Leiche zu bewegen, an ihren Achselhöhlen.
Nichts. Abgesehen davon, dass sie tot war, roch Phyllis Wyvern so wie jemand, der erst vor wenigen Stunden einem Duftbad entstiegen war.
Sie musste sofort nach ihrer Darbietung auf ihr Zimmer gegangen sein, das Julia-Kostüm ausgezogen haben (es lag immer noch ausgebreitet auf dem Bett), ein Bad genommen haben und dann … Ja, was dann?
Wieder benutzte ich mein Taschentuch, um von ihrem Nacken eine kleine Probe der Bühnenschminke zu nehmen, die mir zuvor dort aufgefallen war. Auf dem weißen Leinenstoff sah die Fettfarbe wie fein gemahlener roter Ziegelstein aus.
Den Fingernägeln der Toten widmete ich besondere Aufmerksamkeit. Sie waren glänzend hellrot lackiert, passend zum Lippenstift. Die Nagelhäutchen und die kräftigen, weißgrauen Halbmonde waren ausgespart. Auch Feely lackierte sich die Fingernägel auf diese Art. Auf einmal bekam ich eine heftige Gänsehaut.
Immer mit der Ruhe, altes Mädchen, ermahnte ich mich. Das ist doch nur der Tod.
Auf der Bühne hatte Phyllis Wyvern garantiert noch keine grell lackierten Fingernägel gehabt. Im Gegenteil – mit Ausnahme der Ohrfeige war ihre Julia eher durch ihre
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