Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vorhang auf für eine Leiche

Vorhang auf für eine Leiche

Titel: Vorhang auf für eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bradley
Vom Netzwerk:
dorsolateral. Schulterlage.«
    Aber wo steckte Dogger? Er konnte in seinem Zimmer sein  … oder in der Küche. Er konnte sogar im Treibhaus sein … oder in der Remise.
    Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Als ich wie eine aufgescheuchte Fledermaus die Westtreppe hinunterflatterte, stand Dogger in der Halle und half gerade Cynthia und dem Vikar aus den Mänteln. Die beiden sahen aus wie Überlebende einer fehlgeschlagenen Antarktisexpedition, ebenso Sergeant Graves, der hinter ihnen stand.
    »Der reinste Schneesturm«, krächzte der Vikar zwischen eisverkrusteten Lippen hervor. »Wir wären glatt erfroren, wenn uns der Sergeant nicht gefunden hätte.«
    Cynthia stand zitternd und benommen neben ihm.
    Ich konnte auf Höflichkeiten keine Rücksicht nehmen und flüsterte Dogger ins Ohr: »Dr. Darby braucht dich im Tennyson-Zimmer. Quer dorsolateral. Schulterlage.«
    Eigentlich hatte ich vorgehabt, vor ihm die Treppe hinaufzuflitzen, aber Dogger nahm die Stufen, als wären ihm Flügel gewachsen, und ich hastete wohl oder übel atemlos hinter ihm her.
    Vor der Tür blieb er stehen. »Vielen Dank, Miss Flavia. Gerade in solchen Fällen kann es manchmal sehr schnell gehen. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich.«
    Ich ließ mich in einen Sessel vor dem Zimmer fallen und vertrieb mir die Zeit mit Fingernägelkauen. Nach mehreren aufeinanderfolgenden Ewigkeiten, die in Wirklichkeit wohl nicht länger als ein paar Minuten dauerten, hörte ich Nialla dreimal schrill aufschreien, und darauf folgte etwas, das wie ein verdutztes Blöken klang.
    Was machten die da drin? Warum durfte ich nicht zuschauen?
    Daffy hatte mir erzählt, wie Babys zur Welt kommen, aber die Geschichte war zu albern gewesen, als dass man sie hätte glauben können. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Dogger danach zu fragen, war aber nie dazu gekommen. Vielleicht war das heute ja meine große Chance.
    Die Zeit dehnte sich wie Kaugummi, und ich malte mit den Schuhspitzen konzentrische Kreise auf den Boden, als die Tür endlich aufging und Dogger mich mit gekrümmtem Zeigefinger herbeiwinkte.
    »Nur einen kurzen Blick«, sagte er. »Miss Nialla ist sehr müde.«
    Ich trippelte vorsichtig ins Zimmer, schaute hierhin und dorthin, als könnte mich etwas anspringen und beißen, aber da lag nur Nialla von Kissenbergen gestützt im Bett und hielt ein Wesen in den Armen, das auf den ersten Blick wie eine große Wasserratte aussah.
    Ich schob mich näher heran, und mit einem Mal machte das Wesen das Mäulchen auf und quietschte wie ein Gummispielzeug.
    Es fällt mir schwer zu beschreiben, was in diesem Moment in mir vorging. Wahrscheinlich war es eine Mischung aus überschäumendem Glücksgefühl und erdrückender Traurigkeit. Das Glücksgefühl konnte ich noch nachvollziehen, die Traurigkeit hingegen nicht.
    Es hatte damit zu tun, dass ich mit einem Mal nicht mehr das letzte Baby war, das auf Buckshaw geschrien hatte. Es kam mir vor, als hätte man mir meinen kostbarsten Besitz gestohlen.
    »Wie war’s?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.
    »Ach, Mädel«, antwortete Nialla matt, »das kannst du dir nicht vorstellen.«
    Komisch. Bun Keats hatte das Gleiche gesagt, als ich ihr mein Beileid zum Tod von Phyllis Wyvern ausgesprochen hatte.
    »Was für ein hübsches Kind«, sagte ich unwahrheitsgemäß. »Es sieht aus wie du.«
    Nialla betrachtete das Bündel in ihren Armen und fing an zu schluchzen.
    »Oooh!«, sagte sie.
    Dann spürte ich Doggers Hand auf meiner Schulter, die mich sanft, aber bestimmt zur Tür lenkte.
    Ich ging wieder zu dem Stuhl im Korridor und setzte mich. In meinem Kopf ging alles drunter und drüber.
    Dort, gleich hinter der geschlossenen Tür, lag Nialla mit ihrem Neugeborenen. Und ein paar geschlossene Türen weiter lag die sozusagen neugestorbene Phyllis Wyvern.
    Hatte das eine tiefere Bedeutung, oder war es einfach nur eine stumpfsinnige Tatsache? Kam neues Leben auf die Welt, weil es zuvor aus toten Körpern entwichen war, oder waren das alles nur verstaubte Ammenmärchen?
    Daffy hatte mir von dem Mädchen in Indien erzählt, das behauptete, die Wiedergeburt einer alten Frau zu sein, die im Nachbardorf gestorben war – aber ob das stimmte? Dr. Gandhi war jedenfalls davon überzeugt gewesen.
    Bestand der Hauch einer Wahrscheinlichkeit, dass dieses glitschige Wesen in Niallas Armen die Seele von Phyllis Wyvern beherbergte?
    Bei der bloßen Vorstellung lief es mir kalt den Rücken herunter.
    Trotzdem musste ich mir

Weitere Kostenlose Bücher