Vorhang auf für eine Leiche
Interpretation als einfache Dorfschönheit aufgefallen. Die echte Julia war schließlich kaum älter als zwölf oder dreizehn gewesen, wie Daffy gern erzählte.
»Wenn ihr nicht wärt«, hatte sie einmal geheimnisvoll gesagt, »könnte jederzeit Dirk Bogarde an meinem Balkon heraufklettern.«
Im Gegensatz dazu war Phyllis Wyvern schon neunundfünfzig. Das hatte sie mir selbst verraten. Wie es ihr gelang, im Scheinwerferlicht fünfundvierzig Jahre abzustreifen, kam einem Wunder gleich.
Vielleicht lag es an ihrer Größe. Eigentlich war sie nicht viel größer als ich.
Los, mach weiter!, dachte ich. Die beiden Schauspielerinnen konnten jeden Augenblick zurückkommen und an die Tür hämmern.
Trotzdem nagte da noch etwas unbeirrt in meinem Hinterkopf – nämlich dass irgendetwas hier nicht so war, wie es hätte sein sollen. Aber was bloß?
Ich trat ein Stück zurück und musterte den Leichnam noch einmal von Kopf bis Fuß.
In Bauernbluse und Rock sah Phyllis Wyvern aus, als hätte sie sich in den Sessel fallen lassen, um nur kurz zu verschnaufen, bevor sie in die Maske ging.
War sie vielleicht doch eines natürlichen Todes gestorben? Hatte sie einfach nur einen Herzinfarkt erlitten oder einen tödlichen Schlaganfall?
Unsinn! Nichts konnte die dekorative schwarze Filmschleife, die kunstvoll um ihren Hals geschlungen war, ungeschehen machen. Abgesehen davon hatte Dogger auf die Petechien hingewiesen. Phyllis Wyvern war erdrosselt worden. Offenbar weigerte sich ein Teil meines Verstandes immer noch, diese grausige Tatsache zu akzeptieren.
Von Kopf bis …
Die Haare!
Die Blumen, die in ihr blondes Haar geflochten waren, Julias hübsche Blütenkrone, leuchteten wie kleine bunte Sterne am Winterhimmel. Sie waren bestimmt nicht echt, dachte ich. Sonst wären sie inzwischen verwelkt, doch sie wirkten so frisch, als wären sie eben erst gepflückt worden.
Ich befühlte eine besonders taufrisch aussehende Primel.
Ich konnte nichts feststellen. Ich zog an der Blume, und – großer Gott! – Phyllis Wyverns Haare rutschten ihr mitsamt den Blumen vom Kopf und fielen mit einem scheußlichen dumpfem Wump auf den Boden, als wäre ein erlegter Fasan vom Himmel gefallen.
Es handelte sich natürlich um eine Perücke, und ohne diese Perücke war die Schauspielerin kahl wie ein gekochtes Ei.
Ein gekochtes Ei voller Sprenkel – noch mehr Petechien oder Tardieu-Flecken, wie Dogger sie genannt hatte.
Ich stand da wie vom Donner gerührt. In was für einen Albtraum war ich da hineingeraten?
Ich bückte mich nach der Perücke und setzte sie ihr wieder auf den Kopf, aber wie oft ich das Ding auch hin und her schob, es sah immer irgendwie lächerlich aus.
Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor, weil ich jetzt wusste, was sich darunter befand.
Wie auch immer, ich konnte nicht den ganzen Tag damit verbringen, Phyllis die Frisur zu richten. Ich wandte mich der Kommode zu, auf der ein Durcheinander aus verschiedenen Fläschchen und Döschen stand: Gesichtscreme, Fleckenwasser und Rosenwasser, reihenweise Gesichtslotionen und andere Pflegeprodukte von Harriet Hubbard Ayer. Es war die reinste Apotheke, aber einiges fehlte dennoch: zum einen die rote Theaterschminke, zum anderen der rote Lippenstift und der Nagellack.
Ich durchsuchte Phyllis’ Handtasche, aber abgesehen von einer Handvoll Papiertaschentücher, einer Brieftasche mit sechshundertfünfundzwanzig Pfund und ein paar Münzen war dort nichts Interessantes zu finden: ein Schildpattkamm, ein Taschenspiegel und eine Dose Pfefferminzbonbons (von denen ich mir eins in den Mund und ein paar andere in die Tasche steckte, für den Fall, dass ich irgendwann später einen Energieschub brauchte).
Als ich die Taschenschließe schon wieder zudrücken wollte, entdeckte ich einen Reißverschluss, der im Futter kaum zu erkennen war. Eine geschickte Tarnung, die der Taschenhersteller bestimmt beabsichtigt hatte.
Hallo!, dachte ich. Ein Geheimfach?
Leider enthielt das Fach nicht viel: nur einen Schlüsselbund und ein kleines, aber amtlich aussehendes Büchlein, das aus zwei grauen Seiten bestand, auf denen jeweils das Gleiche stand.
COUNTY OF LONDON
Lizenz zum Führen eines motorgetriebenen
Automobils oder Zweirades
Phyllida Lampman
»Tenebrae«
3 Collier’s Walk, S.E.
Ausgestellt worden war der Führerschein am dreizehnten Mai 1929.
Phyllida? Lampman?
Ob das Phyllis Wyverns richtiger Name war? Sie würde ja wohl kaum einen fremden Führerschein in ihrer Handtasche
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