Vorkosigan 14 16 17 Der Botschafter
bestimmten Sprössling, der von einem alten Skellytum-Baum vom Südkontinent noch übrig war. Er wurde fünfzehn Jahre oder mehr brauchen, bis er ausgewachsen den Platz ausfüllen würde, der für ihn vorgesehen war, aber was machte das schon? Die Vorkosigans hatten diesen Boden bereits seit zweihundert Jahren inne. Die Chancen standen gut, dass noch Vorkosigans hier sein würden, um den Baum in seiner Reife zu sehen. Kontinuität. Mit einer solchen Kontinuität konnte man einen echten Garten heranwachsen lassen. Oder eine echte Familie…
Es läutete an der Vordertür. Ekaterin fuhr zusammen.
Abrupt wurde sie sich bewusst, dass sie noch einen alten Schiffsstrickanzug ihres Onkels als Pyjama trug und ihr Haar von dem Band in ihrem Nacken nicht gebändigt wurde. Die Schritte ihrer Tante wanderten von der Küche in den gefliesten Vorraum. Ekaterin machte sich darauf gefasst, aus dem Blickfeld zu verschwinden, falls es sich um einen formellen Besucher handeln sollte. Ach du lieber Himmel, was, wenn es Lord Vorkosigan war? Sie war in der Morgendämmerung erwacht, die Revision des Gartenplans war ihr durch den Kopf gegangen, sie hatte sich still nach unten geschlichen, um zu arbeiten, und hatte sich noch nicht einmal die Zähne geputzt – doch die Stimme, die ihre Tante begrüßte, war die einer Frau, und Ekaterin überdies bekannt. Rosalie? Hier? Warum?
Eine dunkelhaarige Frau um die vierzig lugte um den
Rand des Türbogens. Ekaterin winkte ihr überrascht zu und
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erhob sich, ging in den Flur und begrüßte sie. Es handelte sich tatsächlich um Rosalie Vorvayne, die Frau von Ekaterins ältestem Bruder. Ekaterin hatte sie seit Tiens Bestattungsfeier nicht mehr gesehen. Sie trug konservative Tageskleidung. Rock und Jacke in einem Bronzegrün, das ihrer olivfarbenen Haut schmeichelte, obwohl der Schnitt ein wenig unmodern und provinziell wirkte. Sie hatte ihre Tochter Edie im Schlepptau, zu der sie sagte: »Lauf ruhig nach oben und suche deinen Cousin Nikki. Ich muss mal eine Weile mit deiner Tante Kat sprechen.« Edie hatte das Stadium jugendlicher Lümmelei noch nicht erreicht und stapfte ziemlich bereitwillig davon.
»Was bringt dich um diese Stunde in die Hauptstadt?«,
fragte Tante Vorthys Rosalie.
»Geht es Hugo und allen anderen gut?«, fügte Ekaterin
hinzu.
»O ja, uns geht es allen gut«, versicherte ihnen Rosalie.
»Hugo konnte sich nicht von der Arbeit freinehmen,
deshalb hat man mich geschickt. Ich habe vor. später mit Edie einkaufen zu gehen, aber sie aus dem Bett zu bringen, damit wir den Morgenzug der Einschienenbahn bekamen, war wirklich ein hartes Stück Arbeit, glaubt mir.«
Hugo Vorvayne hatte einen Posten in der nördlichen
regionalen Zentrale des Kaiserlichen Bergbauamtes im
Vordarian-Distrikt inne, zwei Stunden Fahrt im Expresszug von Vorbarr Sultana entfernt. Rosalie musste für diesen Ausflug noch vor Morgengrauen aufgestanden sein. Ihre beiden älteren Söhne, die schon fast aus dem mürrischen Alter heraus waren, hatte sie vermutlich für den Tag über sich selber überlassen.
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»Hast du schon gefrühstückt, Rosalie?«, fragte Tante
Vorthys. »Möchtest du Tee oder Kaffee?«
»Wir haben im Zug gegessen, aber Tee wäre schön,
danke, Tante Vorthys.«
Rosalie und Ekaterin folgten beide ihrer Tante in die
Küche und boten ihre Hilfe an, und schließlich saßen alle mit dampfenden Tassen um den Küchentisch. Rosalie informierte sie über die Gesundheit ihres Mannes, die Ereignisse ihres Haushalts und die Bildungsfortschritte ihrer Söhne seit Tiens Bestattung. Gut gelaunt kniff sie die Augen zusammen und beugte sich zutraulich vor: »Aber um deine Frage zu beantworten, was mich hierher bringt, das bist du, Kat.«
»Ich?«, fragte Ekaterin verdutzt.
»Kannst du dir nicht vorstellen, warum?«
Ekaterin überlegte, ob es unhöflich wäre zu antworten: Nein, wie sollte ich? Als Kompromiss machte sie eine fragende Geste und hob die Augenbrauen.
»Dein Vater hatte vor einigen Tagen Besuch.«
Rosalies schelmischer Ton lud zu einem Ratespiel ein.
doch Ekaterin dachte nur daran, wie schnell sie die
gesellschaftlichen Artigkeiten hinter sich bringen und zu ihrem Arbeitsplatz aufbrechen konnte. Sie lächelte einfach weiter.
Rosalie schüttelte mit amüsierter Empörung den Kopf,
beugte sich vor und tippte mit dem Finger neben ihrer
Tasse auf den Tisch »Meine Liebe, du hast ein sehr gutes Angebot.«
»Angebot wovon?« Es war unwahrscheinlich, dass
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