Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman
nicht zurück oder auf der Straße. Der Fabrikant schwärmte von den Wolframfäden und dem Argon, das jede Birne heller leuchten lassen würde, und Ludwig erkannte, dass er das Chemische vernachlässigt hatte. Ein paar Monate ging er jeden Tag in die verlassene Fabrik, vollzog im Kopf die Arbeitsschritte, sortierte für sich die Elemente und klaute Bücher. Der Fabrikant war laut vom Branntwein, aber er stellte Ludwig eine Stelle in Aussicht, sobald die Produktion wieder anlief, und Ludwig war einen Abend lang ganz schwindelig, weil er es dem Vater so gern erzählt hätte und nicht wusste, wohin mit all dem, was in ihm rührte.
Er war einsam, aber es war eine Zeit, in der viele einsam waren. Er schrieb im ersten Winter nach Pildau zwei Briefe, einen an die Bäuerin und einen an Ella, in dem er ungelenk nichts anderes sagen wollte, als dass er gleich nach seinem Vater an sie gedacht hatte an jenem Abend und es nichts gäbe, wie an jemanden zu denken, der nichts davon weiß. Mit Briefen war er nicht gut, die Formeln dafür waren sehr kompliziert. Als das Geld des Vaters nichts mehr wert war, ging er mit den Aktien zu einem Kontor der Reichsbank. Sie waren in Goldmark notiert, was, wie man ihm sagte, großes Glück war. Er behielt die Hälfte der Aktien, den Rest verkaufte er, sein Zimmer bezahlte er ein Jahr im Voraus und kaufte zwei Anzüge.
Die Universität hatte ihren Betrieb wieder aufgenommen, Ludwig besuchte Vorlesungen in allen Fächern, niemand interessierte sich für seine Zulassung, immer wieder kam es zu Blockaden und Aufrufen, ein schmaler Mann in einem tadellosen Anzug fiel dazwischen kaum auf. Er saß in der ersten Vorlesung von Adele Hartmann und hatte das Gefühl, von einer Zeit, in der Frauen Professoren wurden, dürfte man sich Großes versprechen. Der Glühbirnenfabrikant ließ ihn Pläne zeichnen für einen neuen Maschinenweg, und als er Ludwig einstellen wollte, sah er sich den Namen Honigbrod lange an und fragte, ob er jüdisch sei. Ludwig dachte nach, verneinte unsicher. Aber von da an blieb der Fabrikant in seinem Büro, wenn Ludwig vorbeikam, und verlor über die großen Pläne mit dem Argon kein Wort mehr. Gekränkt ging Ludwig nicht mehr hin.
Die Handvoll Sommer in der Stadt waren schön, obwohl überall auch Not herrschte. Man fuhr auf Fahrrädern in die Auen, aber Ludwig blieb meistens allein, weil er sich vor Fragen nach seinen Schulen fürchtete. Er hatte eine Runde von Studenten im Kaffeehaus, zu der er sich manchmal setzte und zuhörte, kaufte Lehrbücher und erwarb nach und nach eine Sammlung von wissenschaftlichen Monatsheften, die ihm ein Antiquar günstig überließ, gebündelt in acht großen Stapeln. Er las, ging spazieren, versuchte, alles zu sehen, so verging ihm die Zeit am besten. Es kam auch mal ein wackliger Brief von Ella, in dem sie um Erklärung für manches bat und auch für die beiden Alten fragte, woraus Ludwig schloss, dass sie den Brief am Küchentisch verfasst hatte. Es war Frühling und schon Ende der zwanziger Jahre, als er Heimweh nach der Hofstange bekam, und eines Nachts im August stand er schließlich wieder auf dem Hof, die Alten kamen aus den Betten und nahmen dankbar und stumm alles hin, was er zu berichten hatte. Als er nach Ella fragte, gingen ihre Augen kummervoll nach oben und bis dorthin, wo die Muttergottes vielleicht saß, vorn rechts. Ella lag in ihrer Kammer neben der Küche im Wochenbett, sie hatte es lange verborgen halten können. Das Kind war in stockdunkler Nacht gekommen, nur die Bäuerin war dabei gewesen, und der Bauer hatte selbst noch das Wasser gebracht. Es war ein Junge mit wachem Gesicht, der neben Ella lag und Ludwig ansah, beinahe als würde er gleich anfangen zu lachen. Sie sagte gar nichts, als Ludwig hereinkam, sah ihn nur an, und er war fürchterlich verlegen. Als er, schon im Morgengrauen, seinen Stadtanzug ablegte und auf sein altes Lager schlüpfte, war Ludwig froh, dass er zurückgekommen war.
Dann verging die Zeit, wie sie nur in Pildau vergeht, als ein Ineinander von alten und sehr alten Gewohnheiten, es waren schöne Jahre, aber wenn ihnen das jemand gesagt hätte, sie hätten es nicht geglaubt, denn die schönen Jahre gelten immer erst in der Rückschau. Ludwig half auf dem Feld und auch viel im Haus, damit Ella sich schonte, er lernte das Brotmachen, und wenn etwas Zeit war, lebte er in den Monatsheften, die er sich von seiner Zimmerwirtin hatte nachschicken lassen. Er schrieb an den Abenden manches davon ab und
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