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Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman

Titel: Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Scharnigg
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nächsten Stangentag bekam die Hofstange zusätzlich eine Manschette, die sie aus festen Eichenbohlen gesägt hatten und die sich Ludwig nach Vorbild eines Krähennests an einem Schiffsmast ausgedacht hatte. Danach längten sie Tag und Nacht, die Bäuerin betete laut auf der Bank, es war ein sehr großes Opfer zu Beginn eines sehr großen Krieges. Die Hebeanlage aber bewährte sich, mit Ella hoben sie so die neue Plattform fast neun Meter in die Höhe. Ein paar Eisenklampen dienten als Stufen bis dahin, wo sie die Leiter anlehnen konnten, es war ein Ausguck. Den ganzen Weg vom Waldende bis nach Pildau sah man von dort, der Bauer, Ella und Ludwig wechselten sich tagsüber ab. Es war der Bauer, der eines Mittags im Mai ein Motorrad mit Beisitzer aus dem Wald kommen sah. Ludwig hatte es schon lange gehört und war auf dem Weg in den Erdkeller, als der Bauer, wie es Signal sein sollte, Steine in eine Tonne prasseln ließ. Da saß Wiggerl dann im Dunkeln, wagte nicht, die Lampe zu entzünden, sah trotzdem alles ganz genau vor sich, so genau, als säße er jetzt gerade auf ihrem Ausguck, und sein Magen drehte sich um vor Sorge um Ella, den Jungen und die Alten. Was war das doch für eine Zeit, in der ohne weiteres und an jedem Nachmittag alles passieren konnte. Eben waren sie noch die Saatreihen abgegangen, und jetzt saß er allein hier, und nichts war etwas wert, nur wegen zweier Soldaten auf einem Motorrad. Aber, sagte er sich, es war schon immer so gewesen, zu aller Zeit waren Krieg und Not, und warum sollte es ausgerechnet ihn verschonen. Lange dauerte es, bis er sich ein wenig rührte, und noch länger, bis er die schlurfenden Schritte des Alten hörte, Ella ging im Gras lautlos. Sie lachten, als sie ihn so in der Ecke sahen, er war wirklich kein Held.
    Die Soldaten hatten den Betrieb geschätzt, die Kühe gezählt (es waren nur noch drei) und dann lange die Hofstange begutachtet. Sie waren schon auf anderen Höfen mit Stangen gewesen, hätten sie erzählt, aber keine hatte so eine auffällige Hebeanlage wie diese in Pildau. Erst war es wohl die Weisung des Kommandos gewesen, alle Stangen zu fällen, aber dann waren sie dazu übergegangen, die Stangen der Region in ihren Karten nur zu markieren. So gesehen wären die Poln hier nämlich durchaus ein Beitrag zur deutschen Luftraumsicherheit, hatte einer der Männer gelacht. Für das Kind und die Magd interessierten sie sich nicht. Die Alten waren danach sorglos, aber Ludwig fand das täppisch. Im Dorf wussten doch genug Menschen von ihm, ein Wort, und die Soldaten würden wiederkommen, mit Hunden vielleicht.
    Ein Vierteljahr lang ging es noch, bei jedem Geräusch, jedem auffliegenden Vogel vom Wald stürzte er los und hinter die kleine Tür im Hang. Dann, es war ein Tag mit hohem Herbsthimmel, ging Ludwig, begleitet von Ella und Max, ins Dorf, mitten in der samstäglichen Betriebsamkeit bestieg er den Zug, um sich in seiner Heimatstadt zu melden, sein Stadtanzug war ihm nur an den Armen eng geworden. Den ganzen Weg konnte er kaum schlucken, Ella lachte ganz flach, wenn ihnen jemand begegnete. Nach knapp zwei Stunden Fahrt verließ er den Waggon im letzten Moment, bevor er wieder anruckte, an einem kleinen Bahnhof und wanderte in langer Nacht zurück nach Pildau. Im ersten Morgenlicht kam er von der Straßenseite durch das Wäldchen oberhalb des Weilers, sah als Erstes die Hofstange und später die Dächer, unter denen sie ihre kleinen Leben hatten. An der Stelle, wo er vor beinahe zwanzig Jahren zitternd im Moos gelegen war, saß er nun und atmete ruhig. Wie eigentlich er aus den ordentlichen Verhältnissen in seinem frühen Leben in diese wilde Form geraten war, nirgends verzeichnet, ohne Einträge jenseits von Pildau und mit Rissen an den Händen, das war doch eine seltsame Fügung. Als wäre der erste Bauplan für ihn ganz fehlerhaft gewesen und als hätte man den Apparat neu zusammensetzen und an anderer Stelle aufbauen müssen, damit er funktionierte, so war es. Er war so recht nur hier, nur hier gab es etwas, das ihm etwas zurückwarf. Aus welchen Ereignissen sich ein Leben zusammensetzte und wie ein paar Zufälle alles bestimmten, das zu fassen, das wäre so eine Sache gewesen, wenn er Schriftsteller wäre.
    Der Erdkeller war nach dieser vorgetäuschten Abreise sein Versteck. Tagsüber hielt Ludwig Honigbrod sich möglichst verborgen, nachts kam Ella und brachte ihm etwas, blieb noch ein wenig, und wenn sie sich schlafen legte, ging er oft noch zwischen den

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