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Vorn

Titel: Vorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Bernard
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vierundzwanzig Stunden
     im Dienst des Hefts; noch um halb vier in der Nacht, wenn Milan mit seinem tschechischen Akzent die letzten Gäste im Schumann’s
     zum Gehen aufforderte, konnten Dennis und Tobias plötzlich auf eine neue Idee für einen Artikel oder eine Rubrik kommen, die
     sie dann auf dem Heimweg weiter vorantrieben. Als sie einmal im Morgengrauen an der BP-Tankstelle beim
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einen kalten Milchkaffee in der Dose kaufte, fiel ihnen auf, dass sich das Angebot an Tankstellen von Woche zu Woche zu vergrößern
     schien; vor kurzem noch hatte es dort nur ein paar Getränke und Autozubehör gegeben, jetzt aber glich sich das Sortiment mehr
     und mehr einem Supermarkt an. Dennis hatte dann den Einfall, eine Rubrik namens »Neues von der Tankstelle« einzuführen, in
     der die merkwürdigsten Produkte aus dem Angebot vorgestellt werden sollten. Der Vorschlag wurde wenige Wochen später umgesetzt.
     
    Sie waren auch versessen darauf, noch die abseitigsten Namen und Entstehungsdaten von Liedern oder Fernsehserien aus ihrer
     Kindheit parat zu haben, »unnützes Wissen«, wie sie es nannten, um es in ihren Artikeln jederzeit unterbringen zu können.
     Dennis, Ludwig und Tobias kamen an einem Abend im Schumann’s auf die alte Fernsehserie »Ein Colt für alle Fälle« zu sprechen,
     und stundenlang versuchten sie vergeblich |86| den Namen des Darstellers zu ermitteln, der den altgedienten Stuntman Colt Seavers gespielt hatte. Auch im Taxi nach Hause
     überlegten Dennis und Tobias noch fieberhaft, sangen sich die ganze Zeit die countryartige Titelmelodie vor, doch kamen zu
     keinem Ergebnis. Dennis stieg in der Lindwurmstraße aus, Tobias fuhr noch ein paar Straßen weiter, und als er schon längst
     im Bett lag, klingelte plötzlich das Telefon. Dennis war dran und sagte nur ganz ruhig: »Lee Majors.«
     
    Überall, wo sie sich trafen, waren sie in ständiger Aufnahmebereitschaft für das Heft, taxierten ihre Umwelt, die Menschen
     in ihrer Umgebung. Zu den Artikeln, die im
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gerade am beliebtesten waren, gehörten alle möglichen Arten von Typologien und Klassifikationen, in denen die Redakteure ihre
     Haltung zum Ausdruck brachten. Robert und Tobias hatten etwa eine Titelgeschichte geschrieben, in der es darum ging, dass
     Mädchen so sind, wie sie heißen. In kurzen Artikeln behaupteten sie, dass Annes stets blond und ein wenig arrogant seien,
     Juttas leicht übergewichtige Stimmungskanonen, Claudias Schönheiten auf den zweiten Blick, deren wahre Faszination sich erst
     rückblickend erweise, Bärbels durchtrainierte Sportlerinnen mit sensiblem Kern, Julias wiederum strahlende Wesen, in die man
     sich grundsätzlich verlieben müsse. In den Wochen nach dem Artikel war das Vornamen-Interpretieren im Umkreis der
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- Redaktion ein großes Thema. Per Leserbrief beschwerten sich Annes, dass sie erstens brünett und zweitens sehr umgänglich wären;
     Julias schickten entzückte Dankesschreiben; und einige Leserinnen entwarfen auch Listen mit |87| männlichen Vornamen, in denen sie feinste Differenzen zu klären versuchten, wie etwa die Frage, inwiefern sich »Stefans« von
     »Stephans« unterschieden. Wenn sie abends ausgingen, standen sie manchmal an der Bar eines Clubs und spielten »Julia-Raten«.
     Vor allem Tobias war der Überzeugung, dass Mädchen dieses Namens immer einen bestimmten Glanz ausstrahlten. Gemeinsam beobachteten
     sie die eintretenden Grüppchen, und wenn einer von ihnen sicher war, dass ein Mädchen – eine beeindruckende Erscheinung mit
     vollen Lippen und langen Haaren – eine Julia sein musste, ging er zu ihr und sagte: »Du, entschuldige, ich weiß, das klingt
     jetzt blöd. Aber heißt du zufällig Julia?« Manchmal bewahrheitete sich der Verdacht dann tatsächlich, und in diesen Momenten
     glaubten sie, dass ihre Namenstheorie nicht völlige Erfindung sei.
     
    Tobias entwickelte in den Monaten nach dem Artikel auch die Ambition, irgendwann eine vollkommene Julia kennenzulernen, die
     ideale Repräsentantin dieses Namens. Auf einem Oktoberfest-Ausflug der Redaktion ein paar Monate später glaubte er, dieses
     Ziel erreicht zu haben. Nachdem sich die
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- Mitarbeiter zuerst am »Rallye 2000«-Autoscooter getroffen und Unmengen von bunten Chips investiert hatten (sie erfüllten sich
     nun den alten Kindheitstraum, wie die Aufpasser mit ihren Spezialschlüsseln endlos lange durch die Gegend zu fahren), kamen
     sie später alle an den reservierten Tischen im Bierzelt

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