Vorn
die Garderobenstangen
als Erstes auf, dass einige Lederjacken mit einer Art Stahlkabel an der Stange festgeschlossen waren; sie mussten sehr wertvoll
sein. Ihm gefielen die Sachen in dem Geschäft sofort. Die gerade geschnittenen Hosen, die schmucklosen, fast uniformartigen
Jacken entsprachen tatsächlich genau dem, was Tobias immer im Kopf gehabt hatte, wenn er in den letzten Jahren etwas zum Anziehen
kaufen wollte. Es gab in diesem Laden
das
Hemd,
die
Hose,
den
Mantel, zu denen sich alle anderen Kleidungsstücke auf einmal wie unvollkommene Abweichungen verhielten. Ungefähr so wie es
im Schumann’s
das
Schinkenbrot oder
die
Linsensuppe gab. Der Verkäufer – er hieß Norbert, wie sie von Johannes Veith wussten – war freundlich zu ihnen, vielleicht
eine Spur zu aufgedreht. (Tobias fühlte sich ein bisschen, als wäre er in einer »Kir Royal«-Folge gelandet.) Norbert fand
sichtlich Gefallen an Dennis, und als der irgendwann sagte, dass ihr Kollege Johannes Veith ihnen den Laden empfohlen hätte,
war das wie ein Losungswort. »Ach, schau an!«, sagte Norbert, »seid ihr vielleicht vom
Vorn
?« Er wollte ihre Namen wissen, hatte sogar schon manches von Dennis gelesen, und von diesem Moment an ließ er keine Gelegenheit
mehr aus, die beiden mit ihrem Vornamen anzureden: »Tobias, wenn du Hilfe brauchst, rührst du dich, ja?«, sagte er oder: »Dennis,
da |113| habe ich noch einen Mantel, in den musst du unbedingt reinschlüpfen.« Er half ihnen auch, als sie sich beim Durchschauen der
Sachen unsicher über ihre Kleidergrößen waren. Auf den Etiketten der Hosen und Jacketts standen nicht, wie sonst immer, Buchstaben
wie S, M oder L, sondern Zahlen, mit denen Tobias nichts anfangen konnte. Norbert bemerkte seine Unschlüssigkeit und sagte
gleich, ohne es irgendwie überprüfen zu müssen: »Du brauchst eine 52, Tobias. Und du, Dennis, eine 50, vielleicht sogar eine
48.« Die beiden kauften sich an diesem Nachmittag den gleichen dunkelgrauen Anzug. Es stimmte genau, was Johannes gesagt hatte:
Die Hosen und Jacken fühlten sich so leicht an, dass sich das alte Konfirmationsgefühl, der Eindruck, sich verkleidet zu haben,
überhaupt nicht einstellte. Außerdem kam es ja auch darauf an, was man dazu trug. Im Nachtleben waren Dennis und Tobias in
letzter Zeit manchmal Leute aufgefallen, die New-Balance-Turnschuhe zum Anzug anhatten, und genau so wollten sie es auch machen.
In die
Vorn
- Redaktion kamen die beiden von nun an regelmäßig im Anzug, wobei sie sich anfangs noch am Telefon absprechen mussten, wer
ihn an welchem Wochentag tragen durfte, denn sie wollten natürlich nicht in identischer Aufmachung erscheinen.
Je tiefer Tobias in die Welt des Magazins eintauchte, desto mehr entfernte er sich von seinen alten Bekanntenkreisen, war
sich ihrer nicht mehr ganz sicher. Er bemerkte das immer dann, wenn die beiden Sphären einmal miteinander in Berührung kamen,
zum ersten Mal an dem Abend mit Carla Bertoni in seiner Anfangszeit als freier Autor beim
Vorn
. Der Anlass ihrer |114| Verabredung damals ging zurück auf einen Artikel, den Carla über »Herbal Ecstasy« geschrieben hatte, eine in Kalifornien legal
erhältliche Substanz, deren Wirkung angeblich Ecstasy-Pillen ähnelte. Tobias war zu dieser Zeit für ein paar Wochen in Los
Angeles gewesen, und da er wusste, dass Carla währenddessen Geburtstag hatte, brachte er ihr ein Päckchen Herbal Ecstasy aus
einem Hippieladen am Santa-Monica-Pier mit in die Redaktion. Sie trafen sich ein paar Tage nach seiner Rückkehr, um die türkisblauen
Tabletten miteinander zu nehmen. Carla fragte ihn, wo sie hingehen sollten, und Tobias schlug das Südstadt im Schlachthofviertel
vor, eines jener Lokale, in denen laute Gitarrenmusik läuft und die Gäste Bier trinken und Kicker spielen. Tobias saß mit
Carla, die viel zu elegant gekleidet war für den Laden, an einem Tisch. Sie unterhielten sich über das Magazin, und schon
nach kurzer Zeit gab sie ziemlich deutlich zu verstehen, dass sie sich unwohl fühlte, und fragte Tobias, ob sie nicht lieber
noch ins Schumann’s gehen sollten.
Am klarsten wurde ihm der immer größere Abstand zu seinem alten Leben aber bei den wenigen Gelegenheiten, wenn Emily und die
Vorn
- Redakteure zusammentrafen. Emilys Reserviertheit gegenüber dem Heft hatte ohnehin dazu geführt, dass es fast ein Jahr dauerte,
bis sie seine neuen Freunde überhaupt richtig kennenlernte. Eine der
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