Vorn
auch seine Großmutter wohnte. Er ging rasch die Namen durch, suchte nach Telefonnummern, die mit einer 7 begannen,
der Anfangsziffer in diesem Stadtteil; er war sich außerdem sicher, dass es eine kurze, noch sechsstellige Nummer sein musste,
weil Sarahs Eltern bestimmt seit vielen Jahren denselben Anschluss hatten. Tatsächlich entdeckte Tobias irgendwann auch diesen
Eintrag; es gab nur einen, auf den alle Kriterien passten, in einer Straße mit dem schönen Namen »Am Waldrand«. Tobias empfand
ein eigentümliches Glücksgefühl, die Telefonnummern gefunden zu haben, so als wären die Einträge eine Bestätigung, dass es
Sarah wirklich gäbe. Es hatte auch fast etwas Romantisches für ihn, dieses so neutrale, für jeden zugängliche Verzeichnis
zu einem Ort der Zweisamkeit zwischen ihnen zu machen, hier, spätabends in seiner Wohnung. Er spürte plötzlich eine große
Nähe zu Sarah. Dass sie am Theodor-Fontane-Gymnasium Abitur gemacht hatte, dass sie in dem Stadtviertel aufgewachsen war,
das ihm durch das Haus seiner Großmutter so altbekannt war – all diese Dinge erschienen ihm jetzt wie Zeichen dafür, dass
sie zusammengehörten. Er ertappte sich sogar bei der Vorstellung, dass alles in seinem bisherigen Leben nur eine Vorstufe
der Begegnung mit Sarah gewesen sei. Denn obwohl er sie erst seit wenigen Wochen kannte, kam ihm sein Gefühl für sie vertraut
und ursprünglich vor. Seine Beziehung zu Emily, so besonders und eigentlich unantastbar sie war, erschien ihm nun fast wie
eine jahrelange Zwischenepisode. Als wäre Sarah das Mädchen, auf das er immer |140| schon gewartet hatte, mit dem er schon zu Abiturzeiten hätte zusammenkommen sollen.
Am Samstag nach Philipp Nicolais Geburtstag spielte die Band Stereolab im Backstage. Tobias ging mit Emily dorthin. Er hatte
bei der Plattenfirma zwei Gästelistenplätze reservieren lassen: ein Nebeneffekt von Tobias’ journalistischer Arbeit, den Emily
immer sehr zu schätzen wusste. Sie waren in den vergangenen sieben Jahren auf unzähligen Konzerten miteinander gewesen, und
Emily mochte es, dass sie nun Tobias’ »Plus eins« sein durfte, wie sie in Anspielung auf die übliche Redewendung bei der Vergabe
von Gästelistenplätzen immer sagte. Tobias hatte im Lauf der Zeit auch eine gewisse Routine im Umgang mit diesem Vorrecht
entwickelt. Als er seine ersten Konzertkritiken für die lokale Kulturseite der Tageszeitung schrieb, ging er noch jedes Mal
voller Aufregung zu dem Kassenhäuschen oder der Person am Einlass und sagte zögerlich seinen Namen. Er hatte immer die Befürchtung,
dass die Sekretärin des Zeitungsressorts die Benachrichtigung vergessen haben könnte. Bei einem seiner ersten Aufträge als
Konzertkritiker war es auch zu der unangenehmen Situation gekommen, dass die Frau an der Tür lange mit dem Finger die Liste
auf und ab fuhr und mehrmals kopfschüttelnd sagte, sie könne seinen Namen nicht finden, ihn schon als Wichtigtuer abwimmeln
wollte, bevor sie ihn, in einem handschriftlich ergänzten Vermerk ganz unten, doch noch entdeckte. Irgendwann jedoch wurde
dieser kurze Dialog an der Tür für ihn zur Selbstverständlichkeit, und der Satz »Mein Name ist Tobias Lehnert vom
Vorn
- Magazin, ich müsste auf der Gästeliste |141| stehen« ging ihm leicht über die Lippen. Tobias und Emily ließen sich den Stempel auf den Handrücken geben und gingen in die
Halle hinein. Sie hatten Stereolab schon häufiger zusammen live gesehen, und die Songs der Band waren auch immer wieder auf
seinen Mixtapes für Emily gewesen.
Tobias musste später noch häufig daran denken, wie er diesen Abend im Backstage empfand. Er fühlte sich so wohl wie immer,
wenn er mit Emily auf Konzerte ging. Ständig trafen sie im Publikum auf Bekannte, den Moderator eines Lokalradios, der ihnen
gewohnt ausschweifend von einer neuen Platte vorschwärmte, oder auf Mitglieder einer Münchner Band, deren letztes Konzert
Tobias besprochen hatte. Auch wenn sie jemanden von Undone entdeckten, konnte er das mittlerweile gut aushalten und freute
sich schon fast wieder über die Begegnung. Gerade an solchen Abenden war sich Tobias der Gültigkeit seiner Beziehung mit Emily
gewiss; er fühlte sich aufgehoben bei ihr. Das Vertrauen in ihre Zusammengehörigkeit bildete auch an diesem Abend das ruhige,
sichere Fundament seines Gefühls. Auf der Oberfläche des Fundaments jedoch spürte er immer wieder ein Flirren, ein
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