Vorn
Moment, in dem es geschehen würde. Wenn einer von beiden etwas sagte, antwortete der andere
übermütig »Ja, stimmt, das kenn ich« oder »Klar, das ist mir auch schon passiert«; sie gaben sich einer fortdauernden Zustimmungsseligkeit
hin. Irgendwann berührte Tobias ihre Hand, und das Überschreiten dieser Schwelle hatte etwas Selbstverständliches, fast Beiläufiges.
(Es war nicht wie früher oft, wenn im Kino oder beim Spazierengehen das Arm-um-die-Schulter-Legen über eine halbe Stunde hinweg
geplant wurde, als gelte es, das Mädchen im richtigen Moment zu überrumpeln.) Tobias hörte auf zu reden, und dann küssten
sie sich, versanken immer tiefer in dem alten, ausgeleierten Sofa, und er registrierte die Außenwelt erst in dem Moment wieder,
als die Musik schon aufgehört hatte und die üblichen Geräusche beim Aufräumen eines Clubs zu hören waren. Das Atomic Café
war fast leer, Sarahs Freundinnen waren verschwunden. Die beiden standen auf, lächelten sich an (gar nicht befangen oder verlegen,
wie es vielleicht nach ein paar wenigen Küssen |145| gewesen wäre) und gingen zur Garderobe. Im Auto, vor ihrer Wohnung im Westend, konnten sie sich dann lange nicht voneinander
trennen. Als Sarah schließlich im Morgengrauen ausstieg, verabredeten sie sich nicht. Sie wussten, dass sie sich am Montag
früh wieder im
Vorn
sehen würden und dass der Sonntag bei Tobias anders verplant sei, darüber herrschte zwischen ihnen in diesem Moment ein stilles
Übereinkommen. Als er den Zündschlüssel umdrehte und losfuhr, fiel sein Blick auf seinen Handrücken, auf den schon blass gewordenen
Abdruck des Backstage-Stempels.
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Tobias fuhr in dieser Nacht tatsächlich noch zu Emily. Er öffnete leise die Tür, mit dem Schlüssel, der seit vielen Jahren
an seinem Bund hing und sich längst so vertraut anfühlte wie der zu seiner eigenen Wohnung, und legte sich zu Emily ins Bett.
Sein Blick fiel noch auf ihre Anziehsachen auf dem Boden, die Jeans und den Pullover, in dem das Unterhemd steckte. Emily
hatte die Angewohnheit, sich auf dem Weg ins Bett in Sekundenschnelle auszuziehen und den Kleiderhaufen einfach ineinandergerollt
liegen zu lassen. Der Anblick rührte Tobias in diesem Moment. Am nächsten Tag dann war es ihm immer noch möglich, die Begegnung
mit Sarah völlig von Emily zu trennen. Die Berührungen und Küsse der vergangenen Nacht wirkten zwar nach, Tobias glaubte sie
sogar noch auf seiner Haut zu spüren, doch das beeinträchtigte das Glück ihres Sonntags nicht, das Gefühl der Geborgenheit
in Emilys Gegenwart. Auf ihre Frage beim Frühstückmachen, wie es im Atomic gewesen sei, erzählte Tobias sogar von der neuen
Vorn -
Praktikantin, die er dort getroffen hatte, als würde die Erwähnung ihres Namens den Betrug ein wenig mildern.
Sarah sah er am Montagmorgen in der Redaktion wieder. Als er das Büro betrat, tat sie so, als ob nichts zwischen ihnen geschehen
wäre, sagte nur kurz »Hallo«, |148| ohne richtig vom Computer aufzublicken. Tobias fürchtete, dass der Abend für sie vielleicht nur eine flüchtige Episode gewesen
sei, die sie jetzt schon bereute. In der Redaktion wusste ohnehin niemand davon, denn Robert hatte das Atomic Café schnell
wieder verlassen, wie er vor der Morgenkonferenz zu Tobias sagte: »Wie war’s denn noch bei dir? Claudia und ich waren müde
und sind schnell gegangen« – »Ja, ganz okay, bin auch bald heim«, antwortete Tobias. Nach der Konferenz, auf der Sarah seinen
Blicken weiterhin aus dem Weg zu gehen schien, beeilte er sich, um sie noch auf dem Flur vor dem Büro zu erreichen, und fragte
sie, ob sie mittags etwas mit ihm essen gehen würde. Sie nickte, und an ihrem Lächeln glaubte er zu erkennen, dass auch sie
den Samstagabend nicht vergessen hatte. Den restlichen Vormittag arbeiteten alle vier im Spaßzimmer vor sich hin, telefonierten,
gingen die Post durch, und Sarah und Dennis tauschten sogar wieder ein paar Komplimente aus wie in den Wochen zuvor. Tobias
hätte geglaubt, sie würden miteinander flirten, wenn er es nicht besser gewusst hätte, wobei Dennis ja tatsächlich nichts
ahnte von den Ereignissen des Wochenendes. Mittags dann verließen Tobias und Sarah die Redaktion und stiegen in den Fahrstuhl,
in dem immer ein leicht stechender, metallischer Geruch lag, als wäre die Kabine gerade erst eingebaut worden, obwohl sie
schon viele Jahre lang in Betrieb war. Tobias drückte die
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