Vorn
Erdgeschoss-Taste, und in dem Augenblick, in dem sich der Fahrstuhl
in Bewegung setzte, legte Sarah ihre Arme um ihn und begann ihn zu küssen, so selbstverständlich, als wäre seit dem langen
Abschied am Sonntagmorgen keine Zeit vergangen. |149| Der Fahrstuhl wurde von nun an ihr Zufluchtsort im Verlagsgebäude.
Auf dem Weg über den Viktualienmarkt, Hand in Hand, sprachen die beiden kaum ein Wort darüber, wie es weitergehen würde. Von
Sarahs Freund war nicht die Rede (sie hatte in den Tagen davor ohnehin kaum mit ihm telefoniert), und auch nicht von Emily,
von der sie ja dank Roberts flapsigen Bemerkungen schon häufiger gehört hatte. Nur beim Zurückkommen, im Treppenhaus der Redaktion,
sagte Sarah plötzlich, dass es vielleicht besser wäre, jetzt alles abzubrechen und sich genau ein Jahr nach dem Atomic-Samstag,
am 18. Oktober 1998, wieder zu treffen, mitten auf dem Marienplatz. Dann würden sie ja sehen, ob es wirklich etwas werden
könnte mit ihnen. Sarah nahm ihn aber schon in dem Moment, da sie den Satz ausgesprochen hatte, in den Arm, um ihm zu versichern,
dass sie den Vorschlag nicht ernst gemeint hatte.
Abends in der Redaktion warteten sie, bis alle anderen gegangen waren, und dann küssten sie sich überschwänglich in ihrem
Büro, wie um den Raum, in dem sie sich zum ersten Mal gesehen hatten, in die neuen Verhältnisse einzuweihen. Tobias schlug
vor, ins Rustico am Sendlinger Tor zu gehen. Am Tisch schob er sofort die kleine Blumenvase und die Salz- und Pfefferstreuer
zur Seite, um Sarahs Hand halten zu können (eine Bewegung, die er dann bei jedem ihrer Restaurantbesuche wiederholte). Gleich
nach dem Bestellen begann eine lange Unterhaltung zwischen ihnen, die wie eine Ergänzung, wie ein zweiter Teil zu der im Atomic |150| Café wirkte. Das Gespräch hatte aber eine ganz andere Energie und Richtung; es wurde nicht mit der Euphorie zweier Verliebter
geführt, die auf den ersten Kuss zusteuern, sondern zurückblickend, im sicheren Gefühl der Zusammengehörigkeit. Sie erzählten
einander von ihren früheren Zweifeln, von der Unsicherheit, ob der andere auch Interesse haben würde. Vor jedem ihrer Sätze
stand ein unausgesprochenes (und manchmal auch wirklich ausgesprochenes) »Jetzt kann ich es ja sagen …« Der Moment war gekommen,
in dem die ganzen Versuche und Strategien, den anderen für sich zu begeistern, gebeichtet werden durften.
Sarah beteuerte, wie sehr sie sich darüber geärgert hatte, bei Philipp Nicolais Geburtstagsfeier so weit entfernt von ihm
gewesen zu sein. Und wie sie dann die Tage darauf jeden Abend im Büro ausgeharrt und darauf gewartet hatte, dass Tobias sie
ansprach und zum Essen einlud. »Weißt du, ich hatte ja in der Woche gar nicht viel zu tun«, sagte sie und drückte seine Hand
fester; »schon um halb sechs hätte ich gehen können, aber ich bin dageblieben und habe irgendwann sogar nur noch in Zeitschriften
geblättert. Ist dir das nicht aufgefallen?« Tobias schüttelte den Kopf und sagte ihr, dass er seinerseits nur bemerkt hatte,
dass sie jeden Abend ungewöhnlich lange in der Redaktion gewesen war. Und wie er nach dem Abend im Schumann’s ohnehin endgültig
sicher war, dass sie etwas von Dennis wollte. Sie sah ihn befremdet an, fast ein wenig erbost: »Das hast du wirklich geglaubt?
Dass ich in Dennis verliebt bin? Nein, natürlich ist der nett und alles, ein toller Journalist sowieso, aber er ist überhaupt
nicht mein |151| Typ.« Sie blickte ihm noch einmal mit ungläubigem Lächeln in die Augen. Und dann kam er auf den Abend im Atomic zu sprechen;
wie schwierig es für ihn gewesen sei, den richtigen Grad der Deutlichkeit seines Interesses zu finden. Wie ein 17-und-4-Spieler
habe er sich anfangs gefühlt, sagte Tobias: Er habe zwar das Gefühl gehabt, dass es nicht ganz aussichtslos sei, dass er vielleicht
bei 15 oder 16 stehe, aber er habe vor dem entscheidenden Satz, der entscheidenden Bewegung gezögert. Am liebsten hätte er
sie schon beim Reinkommen einfach küssen wollen, aber damit hätte er womöglich eine zu hohe Karte riskiert, eine nicht wieder
gutzumachende Übertretung.
Nach dem Essen machten sie noch einen Spaziergang, die Fraunhoferstraße hinunter zur Isar, und Tobias zeigte Sarah den neuen
Trainingsplatz der
Vorn
- Fußballmannschaft am Schyrenbad, neben dem großen Rosengarten. Dann liefen sie am Isarufer entlang, bis zur Brudermühlbrücke,
von dort Richtung
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