Vorn
Zweiter.
Bei Verabredungen mit ihm zum Mittagessen gab es nicht einmal einen richtigen Moment der Begrüßung. Schon im Hinsetzen sagte
er ankündigungslos: »Du, grüß dich, schön, dich zu sehen. Hast du heut früh das Foto von der Zugkatastrophe in Eschede auf
der Titelseite gesehen? Die ineinandergeschobenen ICEs, die erinnern einen doch sofort an dieses neue Museumsgebäude in Barcelona,
über das neulich was stand bei uns, oder? Architektur und Unfall, das ist ja im Moment immer eine interessante Verbindung.«
In kaum nachvollziehbarem Tempo entwickelte er sofort ein komplexes Argumentationsgebilde, fast schon einen ganzen Artikel,
bevor er das Gespräch auf eine andere Idee, eine andere Beobachtung lenkte. Beim Espresso |201| hatte sich dann jedes Mal Stoff für mehrere Texte und neue Rubriken angesammelt. Konstantin Dehmel war einer der anregendsten
Menschen, die Tobias je getroffen hatte, doch gleichzeitig repräsentierte er für ihn in dem Moment auch die ganze Flüchtigkeit
dieser Gespräche, die sich ja an austauschbare Adressaten richteten. Bei Konstantin war es etwa so, dass er jeden Autor im
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oder im Feuilleton der Zeitung Tag für Tag mit der Wendung »Du, schöner Artikel neulich« begrüßte, auch wenn eine kurze Rückfrage,
das Ansprechen einer konkreten Textstelle, vermutlich klargemacht hätte, dass er ihn nicht gelesen hatte. (Einmal, als Tobias
ihm in der Warteschlange der Zeitungskantine einen
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- Mitarbeiter vorstellte, sagte Konstantin: »Ach, hallo, klar kenn ich dich! Schöner Artikel übrigens neulich.« Es war aber
der neue Grafiker des Magazins.) Wenn Konstantin zufällig einen Kollegen auf der Straße traf, konnte man sicher sein, dass
er ihm im Vorbeigehen zurufen würde: »Du, lass uns später mal telefonieren« oder »Komm doch mal zum Abendessen rum«, sogar
bei Leuten, mit denen er in den Monaten seines Volontariats kaum etwas zu tun gehabt hatte. Er war offenbar in ständiger Sorge,
nicht genügend Kontaktbereitschaft zu signalisieren. Und gerade in dieser Zuspitzung durch Konstantin Dehmel, so dachte Tobias
nun, wurde deutlich, was für viele Freundschaften unter den Redakteuren galt: Das so lautstark gefeierte Miteinander war in
erster Linie eine Technik der Konversation.
Seit mehreren Wochen war Tobias nicht mehr ins Schumann’s gegangen, und er fragte sich jetzt manchmal, |202| woran genau es lag, dass die
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- Leute fast jeden Abend dort verbrachten. Er hatte sich mit Dennis oder Robert ja tatsächlich in keinem anderen Lokal mehr
getroffen in den vergangenen Jahren. »Man kann halt sonst echt nirgendwo hingehen«, sagte Dennis oft, wenn sie sich nach der
Redaktion überlegten, vielleicht doch einmal etwas Neues auszuprobieren. Sie empfanden alles außer diesem Lokal als unzulänglich,
erklärten es damit, dass die Kellner dort einfach aufmerksamer waren, das Bier und die Steaks besser als überall sonst. Doch
der wichtigste Reiz des Ortes bestand natürlich in etwas anderem: dass das Schumann’s nicht nur eine Bar war, in der man essen
und trinken konnte, sondern Abend für Abend eine Bühne, eine Börse des Journalismus, an der die Kurse der Artikel und ihrer
Autoren verhandelt wurden. In jedem anderen Café oder Restaurant hätten sie diese Funktion vermisst. Jetzt aber sehnte sich
Tobias gerade nach all den Kneipen, Orten ohne zweite Ebene, in denen er früher mit Emily gewesen war.
In den Wochen, in denen er bei Stefan und Regina wohnte, änderten sich die Verhältnisse im
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- Magazin grundlegend. Robert hatte ohnehin gerade eine Redakteursstelle in Hamburg angenommen, und die Freundschaft zu Dennis
war nach dem missglückten Gespräch im Treppenhaus in ein neues Stadium übergegangen: Sie tauschten sich zwar weiterhin über
den Stand der aktuellen
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- Ausgaben aus, spielten noch gelegentlich TippKick miteinander (die allgemeine Begeisterung für das Spiel hatte allerdings
nachgelassen, und die Online-Redaktion veröffentlichte die Ergebnisse nur noch lückenhaft), doch ansonsten gingen sie |203| sich von diesem Tag an aus dem Weg. Dennis hatte auch zum ersten Mal, seitdem er in München lebte, eine feste Freundin. Tobias
dagegen lernte jetzt ein paar seiner Kollegen im
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besser kennen, mit denen er bis dahin nur wenig zu tun gehabt hatte. Er traf sich oft mit Sebastian, dem Nachfolger von Robert
als verantwortlicher Pop-Redakteur, der einen ähnlichen Musikgeschmack wie Tobias hatte;
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