Vorn
außerdem versuchte er nun mit Bedacht,
die Redaktionsleute mit seinen anderen Freunden zusammenzubringen. Stefan und Tobias hatten einen Billardsalon am Isartor
entdeckt, der wie ein altes Kaffeehaus in Wien oder einer osteuropäischen Großstadt aussah. An den Tischen am Eingang spielten
rotwangige Geschäftsmänner in Seidenblousons Rommé um hohe Beträge, die sie kurz vor der Sperrstunde im Toilettenraum beglichen.
Dahinter stand eine lange Reihe von Pool-Tischen, und die Ruhe dieses Spiels tat Tobias gut. Stefan und er trafen sich dort
fast jeden Abend, auch zu der Zeit, als er schon wieder bei sich zu Hause wohnte. Nach und nach kamen auch Leute aus dem
Vorn
regelmäßig dorthin, meistens Sebastian und Jakob – ein ehemaliger freier Autor, der gerade als Redakteur angefangen hatte
–, und zu viert spielten sie stundenlang Billard, Flipper oder Darts. Mit Dennis und Robert, so dachte Tobias, wären solche
Abende, fern von allen Redaktions- und Journalismusgesprächen, nicht möglich gewesen. Er hatte den Schwerpunkt seines Freundeskreises
innerhalb von wenigen Wochen komplett verlagert. Doch diese Maßnahme erschien ihm keineswegs als augenöffnende Wende in seinem
Leben, als ein Moment der Erkenntnis, »in dem sich die wahren Freunde zeigen«, |204| wie es in Interviews mit Prominenten immer heißt, die über eine bewältigte Lebenskrise sprechen. Tobias wusste, dass die Verhältnisse
komplizierter waren. Er bemerkte das alleine daran, dass er den Kontakt zu Stefans Freundin Regina, deren Ratschläge eine
Zeitlang fast lebenswichtig für ihn gewesen waren, nun schon wieder abreißen ließ. Er wollte auch wieder über etwas anderes
reden als seinen inneren Zustand, und dafür kam Regina, sosehr sie ihm geholfen hatte, weniger in Frage als andere. Gleichzeitig
ahnte Tobias, dass er die Nähe zu Dennis, Robert oder Johannes in dem Augenblick wieder suchen würde, in dem es ihm nur ein
wenig besser ginge.
Er war in diesem Frühling und Sommer gezwungen, unablässig über sich selbst nachzudenken. Konnte es wirklich sein, dass er
sich in seinem neuen Umfeld für seine eigene Freundin geschämt hatte? Wenn er jetzt an die Anfangszeit beim
Vorn
- Magazin zurückdachte, musste er sich eingestehen, dass er tatsächlich immer angespannt gewesen war, wenn Emily oder ein alter
Bekannter von ihm mit den Leuten aus der Redaktion zusammenkam. Er achtete dann genau darauf, wie die Unterhaltungen verliefen,
war nervös, ob sich alle gut miteinander verstanden. Und genau diese Sorge, so fiel ihm jetzt auf, war auch der Grund dafür,
warum er sein ganzes erwachsenes Leben über nie ein Geburtstagsfest oder eine andere Party veranstaltet hatte. Die Vorstellung
war ihm unangenehm, seine Bekanntenkreise, mit denen ihn doch völlig unterschiedliche Gesprächsthemen und Jargons verbanden,
zusammenzubringen. Er wäre sich auf seiner eigenen Party wie ein überforderter |205| Dolmetscher vorgekommen, der ständig zwischen den Anspielungen, Redewendungen und Spezialvokabularen der einzelnen Fraktionen
hätte vermitteln müssen. Die Journalisten, die Band-Leute, seine Universitätsfreunde, vielleicht sogar noch ein paar alte
Mitspieler aus dem Fußballverein: Tobias hätte ständig kontrolliert, ob die verschiedenen Kreise sich überschneiden, und er
wäre sofort hinzugeeilt, um die Gefahr eines Aneinander-Vorbeiredens zu unterbinden.
Er war ein Virtuose der Codes, der die Themen und Slangs einer Szene bestens beherrschte, um ein paar Stunden später vollkommen
andere Codes mit derselben Ausschließlichkeit anzuwenden. In der Zeit des Studiums etwa, die täglichen Mittagessen in der
Cafeteria der Kunstakademie: Die Unterhaltungen drehten sich eine Stunde lang allein um Universitätsthemen, um die Seminare,
die sie besuchten, und die einschlägigen Autoren, die sie begeisterten, um Foucault, Derrida, Friedrich Kittler. Tobias ging
im Jargon des Akademischen auf, musste sich keineswegs verstellen. Abends im Substanz oder im Proberaum von Undone handelten
die Gesprächsthemen und Anspielungen dann von etwas völlig anderem, von den neuesten Platten oder bevorstehenden Konzerten.
Doch Tobias beherrschte diesen Jargon ebenso perfekt. Und nahm er die Menschen um sich herum nicht allesamt nur als Repräsentanten
einer Szene wahr? Außerhalb der vertrauten Orte wäre er gar nicht daran interessiert gewesen, sie zu treffen. Jemanden aus
dem Undone-Umfeld etwa hätte Tobias
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