Vortex: Roman (German Edition)
für die Behandlung gewesen, aber wenn es um Leben und Tod ging, machte die marsianische Ethik eine Ausnahme. Typischerweise hatte seine Mutter zuerst die Behandlung in die Wege geleitet und ihre Kollegen erst später um ihr Einverständnis gebeten. Bose war ihr nie so dankbar gewesen, wie er es zweifellos hätte sein müssen; oft, wenn sich die quälende Erinnerung an den nächtlichen Überfall in Madras einstellte, kam ihm der Gedanke, dass es doch gar nicht so schlimm gewesen wäre, hätte sie ihn einfach sterben lassen.
Der Junge legte ein gleichbleibendes Tempo vor und ging an einem zweiten Security-Auto vorbei. Die Peripherie des Lagerhauses wurde noch besser bewacht, als Bose es Stunden zuvor beobachtet hatte. Warum dieser Aufwand? Vermutlich weil Findley senior erfahren hatte, dass Orrin aus der State Care geflohen war. Wahrscheinlich hatte er Angst, das FBI könnte mit einem Durchsuchungsbefehl hier auftauchen.
Bose hoffte, dass Turk einfach aufgab und nach Hause ging; andernfalls würde er ihn abfangen müssen. Die Zeit lief ihm davon; eigentlich war er ja wegen Orrin Mather hier. Er ging etwas schneller, mied Straßenlaternen, hielt sich an schmale Seitengassen.
Als er Turk das nächste Mal zu Gesicht bekam, stand der Junge nur zehn-, fünfzehn Meter von ihm entfernt. Sie befanden sich einige Blocks südlich des Lagerhauses; es war keine Security zu sehen. Bose duckte sich, als der Junge die Straße hinauf- und hinunterblickte und nichts sah als verschlossene Türen, schäbige Gehsteige und endlosen Regen. Der Junge war sichtlich nervös, er ließ die schwere Plastiktasche von einer Hand in die andere wandern. Bose war drauf und dran sich zu zeigen, entweder um ihn zur Rede zu stellen oder um ihn zu verscheuchen, als der Junge sich plötzlich nach links wandte und – die Tasche umarmend – im Laufschritt zwischen zwei düsteren Gebäuden verschwand.
Verdammt, dachte Bose. Er ging Turk schnell, aber vorsichtig nach, in der Hoffnung, dass der Junge nicht bemerkt wurde und man sie nicht zum Abschuss freigab.
Aber Turk war schnell und, zumindest im taktischen Sinne, auch klug. Er wusste, dass es hier unzählige Gassen und Durchgänge gab, von denen viele schlecht beleuchtet waren, und schaffte es unentdeckt in die Straße, die vorne am Lagerhaus vorbeiführte. Diese Straße wurde gut bewacht, doch Turk schlich sich zwischen zwei geparkte Autos, huschte in einer besonders heftigen Regenböe über die freie Fläche und lief in eine Gasse. Er wollte nicht von vorne ins Lagerhaus, mutmaßte Bose, er wollte nach hinten zu den Verladerampen. So wie in Orrins Geschichte.
Bose folgte ihm und kam sich dabei vor wie auf dem Präsentierteller. Er rief sich ins Bewusstsein, dass er den Jungen lediglich daran hindern wollte, einen Riesenfehler zu machen und sich oder jemand anderem Schaden zuzufügen. Aber jeder Annäherungsversuch konnte ins Auge gehen. Was, wenn Turk im ersten Schreck irgendeine unverzeihliche Dummheit machte? Trotzdem – er musste ihn aufhalten.
Bose war unbewaffnet, hatte dafür aber anderes zu bieten: Im Gegensatz zu den verschnittenen Langlebigkeitspräparaten auf dem Schwarzmarkt hatten die marsianischen Originale den Vorteil, dass sie gewisse neurologische Funktionen unterdrückten beziehungsweise optimierten. Zum Beispiel unterdrückten sie spontane Aggressionen – Bose war, was man »langmütig« nannte – und optimierten das Einfühlungsvermögen. Außerdem verbesserten sie die visuelle Wahrnehmung und die Reaktionszeit, was Bose auf der Polizeischule den Ruf eines erstklassigen Scharfschützen eingebracht hatte.
Turk folgte der Gasse bis zu der Stelle, wo sie auf die Straße hinter dem Lagerhaus stieß. Er kauerte sich hin, fast unsichtbar in seinem schwarzen Poncho, und steckte zwei-, dreimal blitzschnell den Kopf heraus, um sich zu überzeugen, dass die Luft rein war. Bose nutzte die Gelegenheit, um aufzuholen.
Jetzt oder nie. »Hey«, rief er gerade so laut, um das Prasseln des Regens zu übertönen.
Der Junge sprang auf und wirbelte herum.
Bose streckte ihm die Handflächen hin. »Ich bin unbewaffnet«, sagte er, ein paar Schritte näher kommend. »Und ich bin keiner von denen.«
»Wer sind Sie dann?« Turk hielt den Methanolkanister so in der rechten Hand, als wolle er ausholen und damit zuschlagen.
»Ich war mal Polizist. Du bist doch Turk Findley, oder? Der Sohn des Besitzers.« Keine Reaktion. Bose nahm das als ein Ja. »Ich will nur eins. Dass wir kehrtmachen und
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