Vortex: Roman (German Edition)
nähern. Das Bild waberte, wurde durch die dazwischenliegende Atmosphäre verzerrt, dann wurde der eindimensionale Faden zum Band. Dieses »Band« war in Wirklichkeit viele Kilometer breit.
Die besten Aufnahmen des Bogens hatten zu keiner Zeit auch nur die geringste Unvollkommenheit festgestellt – doch nun zeigten sich erste Schäden. Die sanft gerundeten Kanten waren abgesplittert.
»Und noch mal das Zehnfache«, sagte ich; viel mehr gab die Optik eines Transporters nicht her.
Wieder ein schwindelerregender Satz nach vorne. Das Bild krümmte und wand sich unter den Korrektur-Algorithmen.
Und ich vergaß auszuatmen. Der Bogen zeigte nicht nur kleinere Unvollkommenheiten, sondern Sprünge und Risse. Ja, ganze Stücke waren herausgebrochen.
Das war es also, was vom Himmel fiel: Stücke aus dem Torbogen – so groß wie kleine Inseln, so schnell wie Sternschnuppen. Wie lodernde Riesenfackeln stürzten sie durch die Atmosphäre und verschwendeten ihre enorme Bewegungsenergie an die toten Meere und Kontinente der Erde.
Das war unmöglich! Aber dann erlebten wir, wie es wieder geschah. Ein dunkler Riss tat sich auf, verbreiterte sich, wurde länger, kreuzte einen anderen – und plötzlich löste sich ein Stück des Bogens heraus und fiel. Es bewegte sich mit der schwerfälligen Anmut seiner eigenen Trägheit – ja, es schien, als müsste es öfter als seine Vorgänger um den Planeten herumfallen, bevor es durch die Reibung mit der Atmosphäre Feuer fing und endgültig abstürzte.
Ich sah Turk an, er sah mich an. Worte waren überflüssig. Wir wussten beide, was das bedeutete – das Tor nach Äquatoria hatte sich für immer geschlossen. Es bedeutete, dass unser Plan gescheitert war.
27
SANDRA UND BOSE
Gebückt folgte Bose einer geschlossenen Reihe von Hecken und hoffte, dass der Regen ihm half, unentdeckt zu bleiben. Der Junge mit der Plastiktasche – vermutlich Turk – folgte mit großen Schritten dem Gehsteig und war ihm um einen halben Block voraus. Noch ein paar Meter und der Junge würde in Sichtweite eines der Security-Autos sein, die Bose bei seiner Rundfahrt gesehen hatte, ein anonymer grauer Wagen, in dem zwei mürrische und zweifellos bewaffnete Typen saßen.
Der Wagen fiel dem Jungen auf. Bose erkannte das an einem unmerklichen Zögern. Sonst ließ sich der Junge nichts anmerken; er ging weiter, mit gesenktem Kopf und triefendem Poncho. Ging einfach an dem Wagen vorbei. Die beiden Männer sahen ihm mit einer synchronen Kopfbewegung hinterher.
Eine Wendung nach links hätte den Jungen direkt zum Vordereingang des Findley-Lagerhauses gebracht, doch er ging weiter. Bose nutzte die Gelegenheit, quer durch den Hinterhof eines Industriegebäudes zu laufen, das ihn gegen das Security-Auto deckte, ihm allerdings auch den Blick auf den Jungen verwehrte. Als würden sich lauter schroffe Hände um ihn reißen, so wuchtig traf ihn der Regen. Seine Schuhe waren quietschnass. An der nächsten Ecke konnte er den Jungen wieder sehen, der noch immer in dieselbe Richtung ging und schon ein gutes Stück am Lagerhaus vorbei war. Geh einfach weiter, dachte Bose. Nimm den nächsten Bus. Mach es mir leicht.
Aber der Junge bog links ab. Er hatte sein Ziel nicht aus den Augen verloren.
Die Beschreibung in Orrins Text legte nahe, dass es sich bei dem Jungen um Turk Findley handelte. Also versuchte Bose sich in Findley junior hineinzuversetzen. Was nicht leicht war. Bose hatte seinen Vater verehrt; Vatermord – auch symbolischer Vatermord – lag ihm so fern, wie es ferner nicht ging.
Aber er wusste sehr gut, was Zorn und Ohnmacht waren. Beides kannte er aus jener Nacht in Madras, als die Diebe in das Haus seines Vaters eingebrochen waren. Auf Geheiß seines Vaters hatte er sich unter dem Schreib tisch versteckt, das Herz hatte ihm bis zum Hals geschlagen, er hatte kaum zu atmen gewagt. »Ich mach das schon«, hatte sein Vater gesagt, und Bose hatte ihm geglaubt. Er war erst aus seinem Versteck gekommen, als er den Schrei seines Vaters gehört hatte. Dann hatte er ebenfalls geschrien.
Sein Vater hatte sich selbst keiner Vierten-Behandlung unterzogen, obwohl er vielen dazu verholfen hatte. In der Mitte des Lebens stehend, war er noch nicht bereit gewesen, die Verantwortungen und Verpflichtungen der Langlebigkeit auf sich zu nehmen. Boses Mutter war nicht so zögerlich gewesen: Sie hatte die Behandlung für ihren Sohn arrangiert, um zu verhindern, dass er seinen Verletzungen erlag. Bose war eigentlich viel zu jung
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