Vortex: Roman (German Edition)
Orrin würde keinem Menschen etwas zuleide tun.«
Congreve verdrehte die Augen. »Und das ist Ihnen bereits nach einem Zwanzig-Minuten-Gespräch klar geworden? Dann sind Sie eine ziemlich bemerkenswerte Diagnostikerin. Wir müssen uns glücklich schätzen, Sie zu haben.«
Sandras Wangen glühten. »Ich habe mit seiner Schwester gesprochen.«
»Ja? Wann?«
»Außerhalb meiner Dienstzeit. Aber …«
»Sie wollen damit sagen, Sie haben in Ihrer freien Zeit die Familie des Patienten zurate gezogen? Dann haben Sie doch sicher einen offiziellen Bericht geschrieben. Oder zumindest ein Memo an mich und Dr. Fein. Nein?«
»Nein«, sagte Sandra kleinlaut.
»Und Sie sehen darin kein Musterbeispiel für Unprofessionalität?«
»Das erklärt nicht …«
»Ich bitte Sie, Dr. Cole, machen Sie es nicht noch schlimmer.« Unvermittelt wurde Congreves Stimme sanfter. »Sehen Sie, ich gebe zu, dass Ihre Arbeit bis zu dieser Sache zufriedenstellend war. Also will ich die jüngsten Vorfälle als stressbedingt zu den Akten legen. Aber Sie müssen wirklich einmal in Ruhe über das alles nachdenken. Warum nehmen Sie sich nicht den Rest der Woche frei?«
»Das ist doch lächerlich.«
»Ganz und gar nicht. Ich weise Ihre Fälle neu zu. Alle. Gehen Sie nach Hause und beruhigen Sie sich. Nehmen Sie sich mindestens eine Woche frei – länger, wenn Sie möchten. Und kommen Sie erst zurück, wenn Sie wieder einigermaßen objektiv denken können.«
Sandra gehörte zu den zuverlässigsten Mitarbeitern der State Care, und Congreve wusste das ganz genau. Offenbar wusste er aber auch, dass sie mit Officer Bose Mittagessen war. Kein Zweifel: Congreve wollte sie aus dem Weg haben, bis die Sache mit Orrin erledigt war. Wem hatte er sein Gewissen verkauft? Und wie hoch war der Preis?
Sie wollte ihm all diese Fragen stellen – auch auf die Gefahr hin, ihren Job zu verlieren –, aber dann biss sie sich doch auf die Lippen. Es ging nicht um sie oder Congreve – es ging um Orrin. Sich mit Congreve zu überwerfen, konnte Orrin nur schaden. Also nickte sie knapp und bemühte sich dabei, seinen triumphierenden Blick zu ignorieren.
»Also gut«, sagte sie mit gesenkter Stimme. Eine Woche. Wenn er darauf bestand.
Sie verließ Congreves Büro und stürmte den Gang hinunter; sie hatte immer noch ihr Passwort und ihren Ausweis, falls sie zurückkommen musste. In ihrem eigenen Büro sammelte sie einige Akten zusammen, und als sie wieder in den Korridor trat, prallte sie fast mit Jack Geddes, dem Pfleger, zusammen. »Ich soll Sie nach draußen bringen«, sagte er. Er genoss die Situation sichtlich.
Das war der Gipfel der Beleidigung. »Ich habe Congreve doch gesagt, dass ich gehe.«
»Ich soll mich davon überzeugen.«
Sandra war versucht, eine zynische Bemerkung zu machen, aber die wäre bei Jack Geddes kaum auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie schüttelte seine Hand von ihrem Arm und zwang sich zu einem Lächeln. »Ich bin zurzeit nicht besonders beliebt bei der Geschäftsleitung.«
»Tja, davon kann ich ein Lied singen.«
»Congreve erwähnte einen Vorfall mit Orrin Mather. Soll gestern passiert sein. Kennen Sie Orrin? Hagerer Junge. Ist jetzt in der Geschlossenen.«
»Ja, den kenn ich. Und das war nicht nur ein Vorfall . Der Junge ist stärker, als er aussieht. Er ist auf den Ausgang zugerannt, als hätte er Feuer am Hintern. Ich musste ihn niederringen und festhalten, bis sie ihn sediert hatten.«
»Orrin wollte flüchten?«
»Wie würden Sie das nennen? Er wich den Schwestern aus wie ein Quarterback.«
»Sie sagen also, er hat angefangen?«
Das musste wohl ziemlich skeptisch geklungen haben, denn Geddes blieb abrupt stehen und krempelte den rechten Ärmel seiner Uniform nach oben. Zwischen Handgelenk und Ellbogen war ein dicker Verband. »Bei allem Respekt, wonach sieht das aus, Dr. Cole? Der kleine Scheißer hat mich so gebissen, dass ich mit einem Dutzend Stichen genäht werden musste und eine verfluchte Tetanus brauchte. Geschlossene Abteilung, was? Ein Käfig wär mir lieber.«
Die Hitze schloss sich wie eine Faust um Sandra, als sie zu ihrem Wagen ging.
Bei einem solchen Klima, schoss es ihr durch den Kopf, konnte man sich nur allzu gut vorstellen, wie die anaeroben Bakterien die Tiefen des Meeres eroberten – so wie in Orrins Weltuntergangsszenarium. Draußen im Golf, hatte sie jedenfalls gehört, gab es bereits eine anoxische Tiefwasserzone, die von Sommer zu Sommer größer wurde. Vor Jahren schon war das Geschäft mit den
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