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Vortex: Roman (German Edition)

Vortex: Roman (German Edition)

Titel: Vortex: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Charles Wilson
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öffentlich verbreitet wurde. Darin lobte er die Bürger von Vox für ihre Hingabe und Ausdauer und drückte seine Bewunderung für die Weisheit der uralten Prophezeiungen aus. Seit Tagen reiste er wie ein Tourist durch die Stadt und wurde dabei immer wieder von neugierigen Kindern belagert, deren ebenso neugierige Eltern scheu auf Abstand blieben und sich nicht trauten, ein Wort an ihn zu richten.
    Ich hatte das alles in den Nachrichten verfolgt. Vox entwickelte einen Hang zum Irrsinn, und die unterwürfige Verehrung von Isaac Dvali war nur das aktuellste Symptom. Ich sagte mir, dass es dabei nicht bleiben würde. Erwarte das Unerwartete, hatte Allison in ihr Tagebuch geschrieben. Nicht gerade ein origineller Gedanke, aber immer passend.
    Ich hielt mich also für gut gewappnet gegen Überraschungen – und war doch bis ins Mark erschrocken, als Isaac plötzlich vor meiner Tür stand, bleich wie ein Champignon und so helläugig wie ein Säugling. Er lächelte und sprach mich zu meiner Verblüffung nicht mit Treya , sondern mit Allison an.
    Natürlich hatte ich Angst vor ihm.
    Ich wusste nicht, was er wollte, und dachte mit Schrecken an die Aufmerksamkeit, die sein bloßes Hiersein erregen würde – ja, schon erregt haben musste. Irgendwo in den Fluren und Gängen lauerten seine Aufpasser. Das Netzwerk hatte uns längst ins Visier genommen.
    Aber alles, was er sagte, war: »Darf ich reinkommen?«
    Und ich nickte stumm und schloss die Tür hinter ihm.
    Irgendwie fand ich den Mut, ihm einen Platz anzubieten, doch er blieb stehen. »Ich bleibe nicht lange«, sagte er auf Englisch. Englisch war seine Muttersprache, fiel mir ein. Unter all den Schichten aus Synthese und Rekonstruktion gab es also noch ein paar Fragmente des »alten« Isaac Dvali; eines Jungen, der in der äquatorianischen Wüste unter Menschen aufgewachsen war, deren Drang, Kontakt mit den Hypothetischen aufzunehmen, schon fast voxisches Format besessen hatte. Er war eine gespaltene und unvollständige Seele – etwas, das er mit mir und Turk gemeinsam hatte. Aber bei ihm kam hinzu, dass er – potenziell zumindest – gefährlich war.
    Wenn man von seiner bleichen Haut absah, waren es seine Augen, die mir am meisten Angst machten. Sein Blick ging mir durch Mark und Bein.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, versuchte er mich zu beruhigen.
    »Das sagt sich so einfach.«
    »Du warst bei mir, als es mir schlecht ging.«
    »Das weißt du noch?«
    Er nickte lächelnd. »Seither habe ich eine Menge über dich erfahren.«
    »Über mich?«
    »Aus dem Netzwerk. Ich weiß, wer und was du bist. Und ich würde mich gerne mit dir unterhalten. Ich tue dir nichts. Und ich erzähle auch niemandem von eurem Fluchtplan.«
    Seit Monaten übte ich mich in der Kunst des Verstellens und Tarnens, nur um dieses eine schlichte Geheimnis zu wahren. Jetzt war es heraus und ich war starr vor Schreck.
    »Niemand kann uns hören«, sagte Isaac.
    »Du irrst dich«, krächzte ich.
    Er lächelte unbeirrt. »Die Sensoren in dieser Wohnung sind außer Betrieb. Und das bleiben sie, solange ich hier bin.«
    » Das kannst du?«
    »Ja. Aus eigener Kraft. Oder kraft dessen, was mir die Chirurgen eingepflanzt haben. Ich kann das Netzwerk beeinflussen, sogar den Coryphaeus.«
    War das möglich?
    Der Coryphaeus beherrschte alle voxischen Aktivi täten, er war eine verschachtelte Hierarchie von Quan tenprozessoren, die über ganz Vox-Core verstreut waren. Selbst ein nuklearer Angriff hatte ihn nur für kurze Zeit lahmlegen können. Mir war nie in den Sinn gekommen, der Coryphaeus könne irgendwie beeinflusst werden – aber da hatte es auch noch keinen Isaac Dvali gegeben. Isaac war von Geburt an mit hypothetischer Biotechnik angereichert worden, und sein neurales Implantat war nicht einfach ein Anhängsel seines Gehirns; sein Gehirn war vielmehr rings um dieses Implantat herum neu geschaffen worden.
    »Du kannst frei reden«, sagte er, »zumindest jetzt und hier.«
    Das Herz schlug mir bis zum Hals. »Du kannst wirklich die Sensoren abschalten?«
    »Ja. Oder dafür sorgen, dass das Material nicht analysiert wird.«
    »Aber wenn du schon Bescheid weißt …«
    »Über eure Flucht?«, sagte er. (Ich hätte mir fast auf die Zunge gebissen.) »Ihr habt euch außerordentlich klug verhalten. Puls, Atmung, Cortisolspuren in Schweiß und Urin – alle diese Marker haben schon seit Wochen erhöhte Werte. Aber solche Werte treten auch bei emotionalem Stress auf. Um stochastische und heuristische

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